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Dunkles Verhaengnis

Dunkles Verhaengnis

Titel: Dunkles Verhaengnis
Autoren: James Sallis
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Kapitel Eins
    Manchmal muss man einfach sehen, wie viel Musik man noch machen kann, mit den Mitteln, die einem bleiben. Das hatte Val zu mir gesagt, Sekunden, bevor ich das Zersplittern ihres Weinglases auf den Dielen der Veranda hörte, aufschaute und erst da den Schuss registrierte, der allem vorausging, vor nunmehr zwei Jahren.
    Mit der Stadt jedenfalls ist nicht mehr viel los. Ich habe beobachtet, wie sie immer mehr heruntergekommen ist, und an manchen Tagen meint man, der nächstbeste kräftige Windstoß könnte sie für immer umpusten. Auch bin ich nicht sicher, wie viel mit mir selbst noch los ist. Was die Stadt betrifft, so hat es rein wirtschaftliche Gründe. Was mich selbst betrifft, nun, vielleicht habe ich einfach ein paar Menschen zu viel sterben sehen, habe ein bisschen zu viel Trauer erlebt, und was im Grunde unerträglich war, musste natürlich trotzdem irgendwie ertragen werden. Ich erinnere mich, dass mir Tracy Caulding oben in Memphis mal von einer Science-Fiction-Geschichte erzählt hat, in der diese Unsterblichen so
ungefähr alle hundert Jahre durch einen Swimming-Pool schwimmen, der sie von ihren Erinnerungen befreit, erst dann können sie weitermachen wie gehabt. In diesem Pool würde ich gerne mal schwimmen.
    Ich saß mit Doc Oldham auf der Bank vor Manny’s Dollar $tore. Doc war vorbeigekommen, um stolz seinen neu gelernten Tanzschritt vorzuführen, und war dann, erschöpft von der Dreißig-Sekunden-Darbietung, nach draußen geschwankt, um ein Weilchen zu verschnaufen, also leistete ich ihm Gesellschaft beim Regenerieren.
    »Früher waren hier in der Gegend mehr Demokraten«, meinte Doc. »Merkwürdige Geschöpfe, aber sie haben sich wenigstens anständig vermehrt. Wohin man auch sah, sie waren überall.«
    Doc hatte sich aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen. Sein Platz war von Bill Wilford eingenommen worden, einem jungen Mann, der aussah wie gerade mal neunzehn. Doc verbrachte heutzutage die meiste Zeit damit, draußen herumzusitzen. Und während des Herumsitzens verbrachte er die meiste Zeit damit, Sprüche wie den gerade geäußerten von sich zu geben.
    »Was ist aus denen geworden, Turner?« Er sah mich an und zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, um den Blick scharf einzustellen. Ich fragte mich,
welcher Teil der Außenwelt es tatsächlich schaffte, seinen grauen Star zu durchdringen und wie viel davon für immer auf der Strecke blieb. »Die Stadt ist so lebendig wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Was zum Teufel hält Sie noch hier?«
    Er umklammerte ein Knie, um das Zucken nach der körperlichen Anstrengung der Tanzeinlage eben zu unterbinden. Seine Hände erinnerten an ausgeblichene rosa Gummihandschuhe. Die Pigmente wären schon vor langer Zeit weggeätzt worden, erklärte er, damals vor dem Medizinstudium, als er noch Apotheker war.
    »Ja, ja, ich weiß«, fuhr er fort, »was zum Teufel hält überhaupt noch irgendwen hier? Zugegeben, es war noch nie eine besonders aufregende Stadt. War auch nie anders geplant. Ist hier einfach alles irgendwie gewachsen, wie Unkraut. Damals waren hier nur Farmen. Am Wochenende will man natürlich in die Stadt fahren, Besorgungen machen und so weiter, aber dafür muss es erst mal eine Stadt geben. Also haben sie sich eine gebaut. Haben wohl Lose gezogen, was weiß ich. Wer in das verdammte Kaff ziehen muss.«
    Ein daumengroßer Grashüpfer kam über die Straße geflitzt und landete auf Docs Ärmel. Die beiden betrachteten sich.

    »Früher wimmelte es hier auch von Kindern, von Kindern und Demokraten. Aber wer nicht schon alt auf die Welt kommt und auch so bleibt, der verschwindet heute so schnell wie möglich von hier.« Er senkte den Blick und meinte zu dem Grashüpfer: »Das solltest du auch tun.«
    Doc war nach wie vor kontaktfreudig, hielt aber nichts von den sozialen Einrichtungen für Alte. Er kreuzte einfach bei den Leuten auf und redete drauflos, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Nachdem er jetzt nichts mehr zu tun hatte, kam es vor, dass sich die zweite Tasse Kaffee, die man ihm anbot, verdammt lange hinzog, und zuweilen beschlich einen das Gefühl, der Doc säße noch da, wenn man selbst reif fürs Altenheim wäre. Er spürte das, registrierte gebührend jedes Zeichen von Unbehagen, jeden unruhigen Blick, jedes Scharren eines Fußes. »Schon ein Wunder, dass ich überhaupt noch hier bin«, sagte er zuweilen. »Ich bin mein eigens gottverdammtes Wunder der modernen Medizin. Bei mir ist mehr nicht in Ordnung als in einem ganzen
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