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Die Geheimnisse der Therapeuten

Die Geheimnisse der Therapeuten

Titel: Die Geheimnisse der Therapeuten
Autoren: Christophe André
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1 – Stéphane Roy
    Ich bin schüchtern, aber ich tue etwas dagegen
    Einem Schüchternen fällt es nie leicht, von sich zu sprechen, selbst wenn er etwas gegen die Schüchternheit tut und es ihm danach besser geht. Ich habe lange überlegt, bevor ich meinen Laptop eingeschaltethabe, wie ich dieses Kapitel beginnen und was ich schreiben sollte. Tausend Fragen sind mir gleichzeitig durch den Kopf gegangen. Zum Beispiel: Was könnte ich an Interessantem mitteilen? Was könnte ich an Nützlichem berichten, um den Lesern die Augen zu öffnen und ihnen auf ihrem eigenen Weg zu helfen?
    Als ich dann vor meinem Computerbildschirm saß, wurde es mir sehr viel klarer: von sich sprechen, sich ohne Furcht offenbaren, sich akzeptieren. Ganz einfach. Und in diesem Sinne wende ich mich jetzt an Sie, als freimütiger Therapeut.
    Die ersten Male
    So weit ich zurückdenken kann, bin ich immer schüchtern gewesen. Keine krankhafte Schüchternheit, die mich daran gehindert hätte, Freunde zu finden oder etwas zu unternehmen, aber dennoch eine unübersehbare Schüchternheit. Die Art von Schüchternheit, die darin besteht, dass man Herzklopfen bekommt, wenn man seine Meinung sagen oder sich mit jemandem unterhalten soll, dem man zum ersten Mal begegnet. Was mich am meisten aus dem Konzept bringen konnte, war, mich mit einem Mädchen zu unterhalten.
    Aber das Gedächtnis ist manchmal unzuverlässig. Deshalb fällt es mir schwer, mich vollkommen präzise an die allerersten Male zu erinnern, bei denen sich meine Schüchternheit zeigte. Wenn ich nachdenke, fällt mir eine Episode ein, die mich bei genauerem Hinsehen mehr geprägt hat, als ich dachte.
    In der Schule
    Ich war ungefähr acht Jahre alt, ging in eine Pariser Grundschule und war ein mittelmäßiger Schüler. Wie üblich ließ der Lehrer uns, wenn er uns abfragte, an die Tafel kommen. Er war keineswegs böse, doch sehr beeindruckend in seinem grauen Kittel, wie man ihn damals trug, mit seinen großen Händen und seiner lauten Stimme. Ich erinnere mich noch gut an all die Strategien, die ich erfand, um diesem Augenblick zu entgehen: Ich versteckte mich hinter einem Mitschüler, tat so, als würde ich etwas vom Boden aufheben, bat, auf die Toilette gehen zu dürfen, oder flehte den lieben Gott an, dass ich nicht drankommen möge. Doch an diesem Tag half nichts, und mich ereilte das Schicksal.
    Kaum hörte ich meinen Vornamen, merkte ich, wie mein Herzschlag sich beschleunigte, meine Hände zitterten und ich errötete. Nun stand ich an der Tafel in der Nähe des Lehrers. Er fragte mich ab, aber ich hatte einen kompletten Blackout. Ich war wie gelähmt, nichts kam aus mir heraus. Ich begriff kaum, was er mich fragte. Im Inneren fühlte es sich wie ein Vulkan an, der ausbrechen wollte, aber nicht konnte. Mir ging es so schlecht, dass der Lehrer mich unter den ebenso erstaunten wie belustigten Blicken meiner Klassenkameraden wieder auf den Platz schickte.
    Im Gymnasium
    Die Jahre vergingen; ich war mittlerweile 14. Es war das Ende des Schuljahrs. Wie jedes Jahr fand in der Mittelstufe eine Sportveranstaltung statt, bei der die Klassen Wettkämpfe untereinander austrugen. Ungewollt und ungefragt wurde ich als Torhüter der Handballmannschaft aufgestellt. Ich hatte keine Ahnung von der Sache, aber es wurde eben ein Tormann gebraucht. Und das war ausgerechnet ich! Um mich kurz zu fassen, bestand mein Abend darin, dass ich eine endlose Reihe von Toren kassierte, die reif für die Annalen waren. Abgesehen vom sportlichen Ergebnis, das sicher nicht im kollektiven Gedächtnis haften geblieben ist, war dies, wie ich glaube, eine der demütigendsten Szenen in meiner Jugend. Ich schwankte zwischen Wut und Tränen, dem Wunsch, dass es ein Ende nehmen möge, und der Angst vor dem, was hinterher passieren würde. Beschämt und gedemütigt versteckte ich mich während der Halbzeit auf der Toilette. Ich war wütend auf die ganze Welt, aber vor allem war ich wütend auf mich selbst. Den Anforderungen nicht gewachsen zu sein war die größte Kränkung, und ich brachte sie mir selber bei. Von diesem Tag an begann ich, mich herabzusetzen, ohne dass es dazu der Hilfe anderer bedurfte.
    Zwischen Entdeckung und Offenbarung
    Einige Jahre später, schon mit dem Psychologiediplom in der Tasche, sorgten der Zufall und viel Beharrlichkeit dafür, dass ich das Glück hatte, in der
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