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Skalpell Nr. 5

Skalpell Nr. 5

Titel: Skalpell Nr. 5
Autoren: Michael Baden , Linda Kenney
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Prolog

    E s gab viele Dinge, die ihr auf die Nerven gingen: Menschenge­dränge, Schlange stehen, billige Schuhe, Anwälte ohne Moral – aber verspätet bei Gericht zu erscheinen stand ganz oben auf der Liste. Manny hasste es, sie hasste es aus tiefstem Herzen.
    Wenn sie manchmal ins Gerichtsgebäude kam und aussah, als wäre sie gerade einem Irrenhaus entsprungen, nahm sie sich immer noch Zeit, sich wieder in Fasson zu bringen. Niemals würde sie vor einem Richter erscheinen, wenn sie nicht aussah wie die Coolness in Person. Nach einer Stippvisite auf der Damentoilette war ihr Make-up dann wieder makellos und jede einzelne Strähne ihres flammend roten Haars da, wo sie hingehörte; die Naht ihrer hauchdünnen Strümpfe führte kerzengerade hinunter zu den neusten Vecchio-Stilettos; ihre Unterlagen waren geordnet, ihre Argumente geschliffen und bereit zum Angriff. Und sie trug stets in beiden Ohren einen Ohrring. Sie glaubte fest daran, dass eine gepflegte Erscheinung von einem gut sortierten Geist zeugte.
    Aber heute waren Pünktlichkeit und makellose Erscheinung vielleicht ein Ding der Unmöglichkeit. Nein, an diesem unerwartet schwülen ersten Donnerstag im September war Manny spät dran, und sie war völlig derangiert.
    Es war wirklich nicht ihre Schuld. Ihr Sportwagen hätte anspringen sollen, auch wenn sie die Schminkspiegelbeleuch­tung die ganze Nacht hatte brennen lassen; ein freies Taxi hätte vor ihrem Büro verfügbar sein sollen, auch wenn Rushhour war. Die anderen Passagiere im überfüllten Pendlerzug hätten ihr mehr Platz lassen sollen, auch wenn kein Quadratzentimeter mehr frei war und der Mann hinter ihr anscheinend Gefallen daran fand, sich gegen ihren Allerwertesten zu drücken. Als der Zug aus unerfindlichen Gründen kurz vor ihrer Haltestelle stoppte und zehn Minuten im Tunnel stehen blieb, als sie merkte, dass sie irgendwo einen Ohrring verloren hatte, als der Zug endlich mit einem Ruck wieder anfuhr und der Mann ihr auf den Schuh trat – kein Wunder, dass sie da verschwitzt, aufgebracht und stinksauer war, als sie in Newark ankam. Nicht gerade die beste Gemütsverfassung, um einen hochkarätigen Bürgerrechtsfall vor einem Geschworenengericht und einem Bundesrichter zu verhandeln, einen Fall, der ihr am Herzen lag und den sie unbedingt gewinnen wollte.
    Manny hatte etwas dagegen, wenn Menschen ungerecht behandelt wurden, so einfach war das. Diese Überzeugung hatte sich bei ihr schon früh herausgebildet. Als Teenager hatten sich Manny und ihre beste Freundin Leigh einmal für einen Ferienjob in einem neuen Donut-Laden auf der Main Street beworben. Manny wurde angenommen. Nicht jedoch Leigh, die schwarz war. Ungerechtigkeit!, schrie Mannys Seele. Sie schwor, sie würde kämpfen, und wie sie kämpfte. Sie organisierte einen Boykott des Restaurants, eine Demo mit Plakaten, auf denen den Betreibern rassistische Einstellungspraktiken vorgeworfen wurden, und sie schaffte es, dass das Lokalfernsehen einen Beitrag in den Abendnachrichten brachte. Und sie bekam einen besseren Job. Der Leiter des örtlichen Gemeindezentrums, der von Mannys resoluten Aktionen beeindruckt war, gab den beiden einen Job in der Beratungsstelle.
    Inzwischen, fünf Jahre nach Abschluss ihres Jurastudiums, hatte Manny sich ihren Ruf als hartnäckige Kämpferin für die Underdogs verdient. Sie hatte gesellschaftlich Benachteiligte und Entrechtete erfolgreich vor Gericht vertreten, Mandanten also, die bei piekfeinen Kanzleien keine Chance hätten. Anwälte, die Anzüge von Brooks Brothers und Klubkrawatten trugen, fanden keinen Zugang zu Mandanten in ausgebeulten Jeans und mit Tattoos und Piercings, Manny dagegen hatte ein Händchen für solche Leute, auch wenn sie selbst Dolce & Gabbana und Versace trug. Außerdem konnten Mannys Mandanten es sich nicht leisten, 600 Dollar die Stunde zu zahlen. Oft zahlten sie nur wenig oder gar nichts. Falls sie gewann, kassierte sie einen prozentualen Anteil an der erstrittenen Entschädigungssumme.
    Auch heute war Manny wieder bereit, auf den Putz zu hauen, diesmal für die Eltern von Esmeralda Carramia, die bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen war. Während sie darauf wartete, durch die Metalldetektoren gelassen zu werden, gewann sie ihre Fassung wieder. Sie hatte bis zum Beginn der Verhandlung noch genug Zeit, sich frisch zu machen – zwar keine zehn Minuten, aber das reichte. Sie war bereit. Sie kannte den Fall in- und auswendig, hatte sich die Fakten so gründlich eingeprägt,
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