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Die Bucht des grünen Mondes

Die Bucht des grünen Mondes

Titel: Die Bucht des grünen Mondes
Autoren: Isabel Beto
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Prolog
    Hier in dieser Bucht war das Wasser ungewöhnlich klar. So sehr, dass Amely im Licht des vollen Mondes und der unzähligen Sterne die Augen der Piranhas sehen konnte, die vor ihren nackten Füßen davonstoben.
    Der Stachelrochen jedoch hielt sich gerne im sandigen Grund auf. Besonders hier, wo der Sand so feinkörnig war. Bewegte sich dort drüben nicht der Grund verdächtig? Langsam ging Amely in die Knie, hob das Nachthemd und wusch sich das Blut von den Unterschenkeln. Die Piranhas witterten es und kehrten zurück, doch Amelys Hand, die das Wasser in Aufruhr brachte, verscheuchte sie. Vielleicht begriffen sie auch, dass Amely unverletzt war. Es war nicht ihr Blut.
    Sie erhob sich und wrang den Saum des Nachthemdes aus. Der riesige Mond stand tief. Er näherte sich den Baumwipfeln und ließ grüne Schatten über das Wasser wandern. Es war ungewöhnlich still. Nur die Flügel der Zikadenweibchen klickten unentwegt. Und ein Fisch ließ das Wasser plätschern. Wann kam der Morgen?
    Oft schon hatte sie am Tage diesen Ort gesehen – aus der Ferne, vom Fluss aus. Sie hatte an Deck ihres kleinen Dampfschiffes gesessen und sich gedacht, dass diese kleine Bucht, umgeben von aus dem Wasser ragenden Weidenstämmen, der schönste Fleck der Welt war.
Nirgends auf der Welt ist es wie in Brasilien
, pflegte Herr Oliveira zu sagen.
Und nirgends sonst trifft einen das Leben so oft so plötzlich
.
    Oh, es war so wahr. So wahr …
    So viel hatte sie in den Monaten, seit sie hier war, gesehen. Doch niemals den Boto. Ein Lied kann ihn rufen, sagten die Caboclos, die Mestizen, die an den Ufern des Rio Negro hausten. Und manchmal, des Nachts, wenn eines ihrer Mädchen ans Ufer ging, um sich zu waschen, verwandelte sich der einzelgängerische Flussdelfin in einen Mann. Betörend und schön. Dann stieg er, sämtliche Stachelrochen fortscheuchend, ans Ufer. Verführte das Mädchen und lockte es hinab in die Fluten, wo die verzauberte Stadt Encante lag.
    Und jetzt ist es Nacht, und ich bin hier
.
    Amely wandte sich vom Wasser ab, um nach ihrer Violine zu suchen. Die halb im Sand vergrabene Pistole stieß sie mit dem Fuß beiseite. Erleichterung durchflutete sie, als sie ihr geliebtes Instrument in den Händen hielt. Sorgsam wischte und blies sie den Sand herunter, tupfte mit dem Nachthemd einige Wassertropfen vom Holz. Hoffentlich hatte es keinen Schaden genommen. Bogen und Saiten waren zumindest trocken.
    Sie vermied es, in das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes zu ihren Füßen zu blicken. Aus dem Augenwinkel sah sie blonde, verschwitzte Strähnen über den weit aufgerissenen Augen liegen. Mit zitternder Hand versuchte er sie fortzustreichen. Sein Bauch hob und senkte sich in heftigen Stößen. Die andere Hand krampfte sich über der blutenden Schusswunde.
    «Amely», flüsterte er. «Lass mich nicht sterben.»
    Amely kehrte zum Wassersaum zurück. Sanft bettete sie die Geige in der Halsbeuge und hob den Bogen. Nur das schönste Lied würde den Boto locken. Sie war entschlossen, so schön zu spielen wie noch nie.

1896
1. Kapitel
    Noch hatte der Wilde sie nicht entdeckt. Gottlob trug sie dunkle Kleidung, und das fremdartige Gebüsch, hinter dem sie sich versteckt hatte, war dicht belaubt. Er bewegte sich geschmeidig. Seine dichten Brauen auf vorgewölbten Wülsten ließen ihn bedrohlich wirken. Seine Faust umklammerte den Wurfspieß, bereit, zu erlegen, was immer sich ihm näherte. Die andere Hand befingerte nervös ein flötenähnliches Instrument, das von seinem Hals hing: ein Blasrohr – eine Waffe, die so leise wie tödlich war.
    Ihr Herz schlug schnell. Hatte sie je eine furchterregendere Gestalt erblickt? Durch die Nase hatte er einen Tierzahn gestochen, der so dick war, dass sie sich fragte, wie er atmen konnte. Sogar seine Stirn verunstalteten beinerne Nadeln. Blaue und grüne Tätowierungen bedeckten die Wangen; lederne Stränge mit bunten Holzperlen umwanden Oberarme und Handgelenke. Und die Schnüre und Lappen um seine Lenden betonten sein Geschlecht. War dies überhaupt ein Mensch?
    «Julius», wisperte Amely. «Julius, wo bist du?»
    «Nur zwei Schritte hinter dir. Bleib ganz ruhig.»
    Der Kopf des Indios fuhr herum, und sein Blick schien sie zu treffen. Aus dem fremdartigen Gesicht sprach Feindseligkeit. Sah er sie? Oder witterte er sie?
    «Knie dich hin», flüsterte Julius.
    Amely raffte den Rock. Der Stoff knisterte unnatürlich laut, dessen war sie sich sicher. Auch das Korsett saß plötzlich noch enger als
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