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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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Glück grenzte, wie er fand.
    Die Hoch- und Tiefbaufirma legte auch
rings um das Haus einen zehn Meter breiten grauen Asphaltstreifen an. Im Haus
selbst ließ er keine Veränderungen vornehmen.
    All diese Umgestaltungen hatten
ihn etwas über acht Millionen Euro gekostet. Er stellte eine Berechnung an und
kam zu dem Ergebnis, dass ihm bis zum Lebensende reichlich Geld zur Verfügung
stand – selbst wenn er sehr alt werden sollte. Seine bei weitem größte Ausgabe
würde die Vermögensteuer sein. Einkommensteuer würde er nicht zu bezahlen
haben. Er hatte kein Einkommen und auch nicht die Absicht, wieder Kunstwerke zu
schaffen, die für den Verkauf bestimmt waren.
    Die Jahre gingen, wie man so sagt,
ins Land.

 
    E INES M ORGENS, ALS J ED zufällig Radio hörte – das hatte er seit mindestens
drei Jahren nicht mehr getan –, erfuhr er, dass Frédéric Beigbeder im Alter von
einundsiebzig Jahren gestorben war. Er war in seinem Haus an der baskischen
Küste entschlafen, dem Radiosender zufolge im »liebevollen Kreis der Seinen«.
Jed wollte das gern glauben. Soweit er sich erinnerte, hatte Beigbeder
tatsächlich etwas gehabt, das liebevolle Zuneigung hervorrief, und allein die
Existenz von »Seinen« war etwas, was Houellebecq nicht gekannt hatte und er
auch nicht: eine Art von Vertrautheit mit dem Leben.
    Auf diese indirekte Art, gewissermaßen
durch den Vergleich, wurde ihm bewusst, dass er selbst sechzig geworden war.
Das überraschte ihn, er hatte gar nicht gemerkt, dass er schon so alt war.
Durch die Beziehung zu anderen und durch deren Vermittlung wird einem das
eigene Altern erst wirklich bewusst; man selbst tendiert immer dazu, sich für
unsterblich zu halten. Gewiss, sein Haar war weiß und sein Gesicht faltig geworden,
aber all das war unmerklich geschehen, ohne dass ihn irgendetwas direkt mit den
Bildern seiner Jugend konfrontiert hätte. Und mit einem Schlag wurde Jed etwas
bewusst: Obwohl er während seiner künstlerischen Laufbahn Tausende von Fotos gemacht
hatte, besaß er keine einzige Aufnahme von sich selbst. Er hatte auch nie in
Betracht gezogen, ein Selbstporträt zu malen, da er sich zu keinem Zeitpunkt
als geeignetes künstlerisches Objekt betrachtet hatte.
    Seit über zehn Jahren war das
südliche Tor seiner Domäne, über das man Zugang zum Dorf hatte, nicht benutzt
worden; dennoch öffnete es sich ohne Schwierigkeiten, und Jed beglückwünschte
sich wieder einmal dazu, dass er die Arbeiten von der Firma aus Lyon hatte
ausführen lassen, die ihm ein ehemaliger Kollege seines Vaters empfohlen hatte.
    Er hatte nur noch eine vage
Vorstellung von Châtelus-le-Marcheix, in seiner Erinnerung war es nichts
anderes als ein kleines, etwas ungepflegtes Dorf wie viele andere in Frankreichs
ländlichen Regionen. Doch kaum hatte er die Dorfstraße betreten, war er äußerst
verblüfft. Zunächst einmal hatte sich das Dorf erheblich vergrößert, es gab
mindestens zwei- oder dreimal so viele Häuser wie früher. Und nur hübsche,
blumengeschmückte Häuser, die unter geradezu manischer Wahrung des
traditionellen Baustils des Limousin errichtet waren. Überall auf der
Hauptstraße wurden in den Auslagen der Geschäfte regionale Erzeugnisse und
kunsthandwerkliche Gegenstände angeboten, auf hundert Metern zählte er drei
Cafés mit preiswerten Internetverbindungen. Er hatte den Eindruck, auf Ko Phi
Phi oder in Saint-Paul-de-Vence zu sein und nicht in einem Dorf in der Creuse.
    Etwas benommen blieb er auf dem
Dorfplatz stehen und erkannte das Café gegenüber der Kirche wieder. Genauer
gesagt erkannte er den Standort des Cafés wieder. Die Inneneinrichtung mit
Jugendstillampen, Tischen aus dunklem Holz mit schmiedeeisernen Beinen und
lederbezogenen Bänken war ganz offensichtlich der Atmosphäre eines Pariser
Cafés der Belle Époque nachempfunden. Jeder Tisch war jedoch mit einer Dockingstation
für Laptops, einem 21-Zoll-Bildschirm und Steckdosen nach europäischer und
amerikanischer Norm ausgerüstet, und einer Broschüre war zu entnehmen, wie man
die Verbindung mit dem Creuse-Sat- Netz herstellte – das Departement hatte den Bau eines
geostationären Satelliten finanziert, um die Schnelligkeit der
Internetverbindungen in seinem Bereich zu verbessern, wie Jed bei der Lektüre
der Broschüre erfuhr. Er bestellte sich ein Glas Menetou-Salon, einen Rosé, den
er langsam trank, während er über diese Veränderungen nachsann. Um diese
morgendliche Stunde war das Café noch kaum besetzt. Eine chinesische
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