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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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Martin für seinen alleinigen Gebrauch ein außerordentliches
Hilfsmittel zur Verfügung, für das es auf dem Markt keine Entsprechung gab. Auf
einem ähnlichen Prinzip basierend wie die Photoshop-Filter, ermöglichte das
Programm, bis zu sechsundneunzig Videofilme übereinanderzukopieren, wobei sich
Helligkeit, Sättigung und Kontrast für jeden Film individuell regeln ließen;
außerdem konnte man sie nach und nach in den Vordergrund holen oder im Hintergrund
verschwinden lassen. Dieses Programm erlaubte ihm, jene langen, hypnotisierenden
Ansichten zu schaffen, bei denen die industriell gefertigten Gegenstände
erdrückt und allmählich unter immer zahlreicheren pflanzlichen Schichten
begraben zu werden scheinen. Manchmal erwecken sie den Eindruck, sich zu wehren
und zu versuchen, wieder an die Oberfläche zu gelangen, doch dann werden sie
von einem Wirbel von Gräsern und Blättern weggefegt, sie tauchen in einem
pflanzlichen Magma unter, und während sich ihre Oberfläche auflöst, werden
Mikroprozessoren, Batterien und Speicherkarten sichtbar.
    Jeds Gesundheitszustand
verschlechterte sich, er konnte nur noch Milchprodukte und süße Nahrung zu sich
nehmen und befürchtete, dass er wie sein Vater an Darmkrebs sterben würde.
Untersuchungen im Krankenhaus von Limoges bestätigten die Krebs-Diagnose, aber
er weigerte sich, sich behandeln, eine Strahlentherapie oder irgendeinen
schweren Eingriff vornehmen zu lassen, und begnügte sich damit,
Komfortmedikamente, die seine besonders am Abend starken Schmerzen lindern
sollten, sowie Schlaftabletten in hohen Dosen einzunehmen. Er setzte ein
Testament auf und vermachte sein Vermögen verschiedenen Tierschutzvereinen.
    Etwa um die gleiche Zeit begann er
Fotos von allen Menschen, die er gekannt hatte, abzufilmen, von Geneviève,
Olga, Franz, Michel Houellebecq, seinem Vater und anderen – tatsächlich allen,
von denen er Fotos besaß. Er heftete sie an eine neutral graue, wasserdichte
Leinwand, die auf einen Metallrahmen gespannt war, filmte sie direkt vor seinem
Haus und überließ sie diesmal dem natürlichen Verfall. Die Fotos, die der abwechselnden
Einwirkung von Regenschauern und Sonnenlicht ausgesetzt waren, wellten sich, verwitterten,
rissen in Stücke und waren nach ein paar Wochen völlig zerstört. Noch erstaunlicher
war es, dass er kleine Spielfiguren erwarb, schematische Darstellungen
menschlicher Wesen, die er der gleichen Behandlung unterzog. Die Figuren waren
widerstandsfähiger, und er musste, um ihren Verfall zu beschleunigen, wieder
seine Säureflaschen benutzen. Er ernährte sich jetzt nur noch von
Flüssignahrung, und jeden Abend kam eine Krankenschwester, die ihm eine
Morphiumspritze gab. Aber morgens ging es ihm besser, und so konnte er bis zum
letzten Tag wenigstens zwei oder drei Stunden arbeiten.
    Auf diese Weise nahm Jed Martin
von einem Dasein Abschied, in dem er sich nie ganz heimisch gefühlt hatte.
Bilder kamen ihm wieder vor Augen, und obwohl sein Sexualleben nicht gerade
außergewöhnlich verlaufen war, waren es erstaunlicherweise vor allem Bilder von
Frauen. Geneviève, die liebenswerte Geneviève, und die unglückliche Olga
verfolgten ihn in seinen Träumen. Er erinnerte sich sogar wieder an Marthe
Taillefer, die ihn auf einem Balkon in Port-Grimaud die Begierde hatte
kennenlernen lassen, als sie ihren Büstenhalter aufgehakt und ihren Busen
entblößt hatte. Sie war damals fünfzehn gewesen und er dreizehn. Noch am selben
Abend hatte er auf der Toilette der Dienstwohnung onaniert, die seinem Vater
zur Überwachung einer Baustelle zur Verfügung gestellt worden war, und hatte
sich gewundert, so viel Gefallen daran zu finden. Auch Erinnerungen an weiche
Brüste, gewandte Zungen und enge Scheiden kehrten zurück. Tja, so übel war das
Leben doch gar nicht gewesen.
    Etwa dreißig Jahre zuvor (und das
ist der einzige Hinweis, der in seinem Interview in Art
Press über die rein technischen Angaben
hinausgeht) hatte Jed eine Reise ins Ruhrgebiet unternommen, wo eine große
Retrospektive seiner Werke stattfinden sollte. Von Duisburg bis Dortmund und
von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren
verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte
veranstaltet wurden, und gleichzeitig bemühten sich die Kulturinstanzen, einen industriellen Tourismus ins
Leben zu rufen, der die Nachbildung der Lebensweise der Arbeiter zu Beginn des
20. Jahrhunderts zum Rahmen hatte. Tatsächlich
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