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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne
Autoren: Orhan Pamuk
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1
  AM MORGEN
    »Der Nachthemdärmel, mein Rücken … Die ganze Klasse
… Und die Laken … Herrje, das ganze Bett ist klatschnass! Alles ist nass,
und ich bin aufgewacht!« dachte Cevdet. Es war wirklich alles nass, so wie er es
gerade geträumt hatte. Grummelnd drehte er sich im Bett herum und dachte
erschrocken an seinen Traum zurück, in dem er in der Knabenschule von Kula vor
seinem Lehrer gesessen hatte. Dann fuhr er von seinem nassgeschwitzten
Kopfkissen hoch. »Genau, wir saßen vor dem Lehrer, und in der ganzen Schule
stand uns das Wasser bis zu den Knien. Aber warum? Ach ja, weil es von der
Decke herabtropfte! Das salzige Wasser lief mir über Stirn und Brust und
verteilte sich im ganzen Raum. Der Lehrer zeigte mit seinem Stock auf mich und
rief: Alles nur wegen diesem Cevdet!« Ihn schauderte bei der Vorstellung, wie
der Lehrer ihn so anprangerte und die anderen Schüler sich zu ihm umdrehten und
ihn vorwurfsvoll ansahen, insbesondere sein zwei Jahre älterer Bruder, dessen Blick
voller Verachtung war. Doch der Lehrer, der manchmal die gesamte Klasse
durchprügelte, ohne mit der Wimper zu zucken, und der einen Schüler mit einer
einzigen Ohrfeige bewusstlos schlagen konnte, kam merkwürdigerweise doch nicht,
um ihn wegen des herabtropfenden Wassers zu bestrafen. »Ich war anders als die
anderen, ich war allein, und sie verachteten mich«, dachte Cevdet. »Aber keiner
wagte es, mich auch nur anzurühren, obwohl doch die ganze Schule mit Wasser
voll lief!« Plötzlich wirkte der Alptraum nur noch wie eine nette, harmlose
Erinnerung. »Ich war allein und anders als sie, aber sie trauten sich nicht,
mich zu bestrafen.« Beim Aufstehen fiel ihm ein, wie er einmal aufs Schuldach
gestiegen war und dabei Ziegel zerbrochen hatte. »Wie alt war ich damals?
Sieben? Jetzt bin ich siebenunddreißig und verlobt, und bald werde ich
heiraten.« Ganz aufgeregt wurde er beim Gedanken an seine Verlobte. »Ja, bald
heirate ich, und dann … Aber was trödele ich da herum! Es ist bestimmt schon
spät!« Er eilte zum Fenster und sah zwischen den Vorhängen durch. Es herrschte
ein seltsam nebliges Licht draußen. Die Sonne war jedenfalls schon aufgegangen.
Kopfschüttelnd besann er sich darauf, dass er ja neuerdings eine Uhr hatte:
Nach alttürkischer Zeit war es halb eins. »Jetzt aber Beeilung!« brummte er und
eilte auf die Toilette.
    Während er sich wusch, verbesserte
sich seine Laune. Beim Rasieren fiel ihm der Traum wieder ein. Ihm stand ein
Besuch im Konak von Şükrü
Paşa bevor, weshalb er den
neuen, blitzsauberen Anzug anlegte, ein Hemd mit gestärktem Kragen und eine
Krawatte, die ihm besonders elegant erschien. Schließlich setzte er den Fes
auf, den er für die Verlobungsfeier eigens hatte aufbügeln lassen. Er besah
sich in dem kleinen Tischspiegel, doch obwohl der Anblick ihn überzeugte, legte
sich ein leichter Schatten über seine Seele. Dass er so aufgeregt war, wenn er
in schicker Kleidung zum Konak seiner Verlobten fuhr, musste doch etwas
Lächerliches an sich haben. Ein wenig wehmütig schlug er die Vorhänge zurück.
Die Minarette der Şehzadebaşi-Moschee waren in Nebel
gehüllt, aber die Kuppel war gut sichtbar. Die Laube im Garten nebenan erschien
ihm grüner denn je. »Es wird wohl heiß werden heute.« Unter der Laube leckte
sich ausgiebig eine Katze. Ihm fiel etwas ein, und er streckte den Kopf zum
Fenster hinaus: Ja, das Coupé stand schon vor dem Haus. Die Pferde wedelten mit
dem Schwanz, und der Kutscher rauchte, während er auf Cevdet wartete. Dieser
nahm seine Zigaretten, sein Feuerzeug und die Brieftasche an sich, steckte
seine Uhr nach einem letzten Blick darauf ein und verließ das Zimmer.
    Die Treppe ging er so polternd
hinunter wie immer. Und wie immer stand daraufhin gleich Zeliha am
Treppenabsatz und eröffnete ihm lächelnd, sein Frühstück stehe bereit.
    Cevdet versuchte, sich mit einem
hingebrummten »Keine Zeit, muss sofort weg!« an der alten Frau vorbeizudrücken,
aber sie protestierte: »Aber doch nicht ungefrühstückt!« Und als sie seine
unentschlossene Miene sah, lief sie gleich in die Küche.
    Cevdet sah ihr verzagt hinterher,
aber davonstehlen konnte er sich nicht mehr. Er überlegte, wie er die Frau nach
seiner Heirat loswerden könnte. Sie war eine weitläufige Verwandte von ihm, und
die beiden lebten zusammen wie Mutter und Sohn. Als er neun Jahre zuvor das
Haus in Haseki gekauft hatte, hatte er sie zu sich genommen, in der Annahme,
sie würde sich weniger in sein
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