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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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hatten, stellten zumeist einen bärtigen Krieger mit Pferdeschwanz
dar, der auf einem eindrucksvollen mechanischen Streitross ritt, sichtlich ein
im Space Opera -Stil
abgewandeltes Modell seiner Harley-Davidson. Er bekämpfte manchmal Horden
zudringlicher Zombies, manchmal Heere militärischer Roboter. Andere Bilder, die
eher die Entspannung des Kriegers darstellten, enthüllten eine typisch männliche
erotische Phantasie auf der Grundlage von im Allgemeinen zu zweit auftauchenden
geilen Schlampen mit gierigen Lippen. Es handelte sich im Grunde um
Autofiktionen, um imaginäre Selbstporträts; seine mangelnde Maltechnik erlaubte
ihm leider nicht, das für die High Fantasy üblicherweise erforderliche Niveau an Hyperrealismus
und Akribie zu erreichen. Alles in allem hatte Jed selten etwas so Hässliches
gesehen. Er suchte eine Stunde lang nach einem geeigneten Kommentar, während
der Typ unermüdlich seine Gemälde aus ihren Papphüllen holte, und stammelte
schließlich, dass es sich um ein Werk von großer
visionärer Kraft handele. Er fügte
umgehend hinzu, dass er keinerlei Kontakte zu Künstlerkreisen bewahrt habe. Was
im Übrigen die reine Wahrheit war.

 
    D IE E INZELHEITEN ÜBER J ED Martins künstlerisches Schaffen innerhalb der letzten
dreißig Jahre seines Lebens wären uns völlig unbekannt geblieben, wenn er sich
nicht einige Monate vor seinem Tod bereiterklärt hätte, einer jungen
Journalistin von Art Press ein Interview zu gewähren. Obwohl der Dialog mehr als
vierzig Seiten der Zeitschrift füllt, spricht er darin – nahezu ausschließlich
– über das technische Vorgehen, das es ihm ermöglicht hatte, jene seltsamen
Videogramme herzustellen, die sich heutzutage im MOMA in Philadelphia befinden. Sie haben nicht die
geringste Ähnlichkeit mit seinem früheren Werk und noch nicht einmal mit sonst
irgendetwas Bekanntem und rufen dreißig Jahre danach bei den Besuchern noch
immer eine Mischung aus Beklemmung und Unbehagen hervor.
    Er hat sich geweigert, irgendeine
Aussage über den Sinn der Werke zu treffen, die ihn in seinem gesamten letzten
Lebensabschnitt beschäftigt haben. »Ich will die Welt darstellen … Ich will
ganz einfach die Welt darstellen … «, wiederholt er über mehr als eine Seite hinweg
gegenüber der jungen Journalistin, die derart von ihm eingeschüchtert ist, dass
sie seinem senilen Geschwätz keinen Einhalt zu gebieten vermag, und vielleicht
ist das sogar besser so, ungehindert gibt Jed Martin sein wirres Zeug von sich,
bei dem es im Wesentlichen um Blenden, Einstellungen und Softwarekompatibilität
geht. Ein bemerkenswertes Interview, bei dem sich die junge Journalistin
»hinter dem Thema verschanzt«, wie Le Monde gehässig schrieb, deren Redakteure vor Neid darüber
platzten, die Gelegenheit zu einem exklusiven Interview mit Jed Martin verpasst
zu haben. Die junge Journalistin dagegen wurde aufgrund des Interviews ein paar
Monate später zur stellvertretenden Chefredakteurin ihrer Zeitschrift ernannt –
genau an dem Tag, an dem die Pressemeldung über Jed Martins Tod erschien.
    Auch wenn sich Jed auf mehreren
Seiten darüber auslässt, hatte seine Filmausrüstung als solche nichts
Bemerkenswertes: ein Manfrotto-Stativ, ein semiprofessioneller Camcorder von
Panasonic – den er wegen der außergewöhnlichen Lichtempfindlichkeit des Sensors
gewählt hatte, die ihm erlaubte, bei fast völliger Dunkelheit zu filmen – und
eine am USB -Ausgang
des Camcorders angeschlossene Festplatte mit zwei Terabyte. Zehn Jahre lang
verstaute Jed Martin jeden Vormittag bis auf dienstags (den Tag, an dem er
seine Einkäufe machte) dieses Material im Kofferraum seines Audi und fuhr die
Privatstraße entlang, die er in seiner Domäne hatte anlegen lassen. Es war kaum
möglich, von dieser Straße abzuweichen: Das hohe, von Dornensträuchern
überwucherte Gras führte sehr bald zu einem dichten Wald mit undurchdringlichem
Unterholz. Die Spur der Wege, die früher durch den Wald geführt hatten, war
seit langem verschwunden. Nur der schwammige Uferbereich des Teiches mit seiner
aufgrund der Nässe spärlichen Grasdecke war noch halbwegs begehbar.
    Obwohl Jed über eine große Auswahl von
Objektiven verfügte, benutzte er fast ausschließlich ein Schneider Apo-Sinar,
das sich durch die erstaunliche Besonderheit auszeichnete, bei Blende 1,9 eine
maximale Brennweite von 1200 mm zu erzielen, bezogen auf das Format 24 x 36.
Für die Wahl seiner Motive habe er »keinen feststehenden Plan«, behauptete
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