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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Autoren: Michel Houellebecq
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ein und fand die Auffahrt zur Autobahn leicht wieder.
    Jed waren Aufrisse, Grundrisse und
Schnittzeichnungen, mit denen Architekten die Einzelheiten der geplanten
Gebäude festhalten, nicht sonderlich vertraut, daher versetzte ihm der Anblick
der ersten künstlerischen Darstellung, die er auf den letzten Blättern der
ersten Zeichenmappe entdeckte, geradezu einen Schock. Das Ganze wirkte
überhaupt nicht wie ein Wohnhaus, sondern eher wie ein neuronales Netz, bei dem
die Wohnzellen durch lange, gekrümmte Gänge voneinander getrennt waren, die
sich überdacht oder unter freiem Himmel sternförmig verzweigten. Die Wohnzellen
hatten sehr unterschiedliche Größen und waren meistens kreisförmig oder oval –
was Jed überraschte, der geglaubt hatte, dass sein Vater stärker an
geradlinigen Formen hing. Eine weitere erstaunliche Einzelheit war das völlige
Fehlen von Fenstern; die Dächer dagegen waren durchsichtig. Sobald die Bewohner
dieser Großsiedlung also heimgekehrt waren, würden sie keinerlei Sichtkontakt
mit der Außenwelt mehr haben – mit Ausnahme des Himmels.
    Die zweite Zeichenmappe war den
Innenansichten der Wohnungen gewidmet. Das Erstaunliche daran war die Tatsache,
dass es so gut wie keine Möbel gab – was durch die systematische Verwendung von
kleinen Höhenunterschieden im Fußboden ermöglicht wurde. Die Schlafbereiche
bestanden daher aus rechtwinkligen Mulden von vierzig Zentimetern Tiefe, sodass
man in sein Bett hinabstieg, anstatt hinaufzusteigen. Die nach dem gleichen
Prinzip konzipierten Badewannen waren große, runde Becken, deren Rand sich auf
Höhe des Fußbodens befand. Jed fragte sich, was für Materialien sein Vater
dafür zu verwenden gedacht hatte; vermutlich Kunststoff, sagte er sich, Polystyrol,
das sich durch Thermoformverfahren in nahezu jede Form pressen ließ.
    Gegen neun Uhr erhitzte er eine
Lasagne in der Mikrowelle. Er aß sie langsam und trank dazu eine Flasche roten
Landwein. Er fragte sich, ob sein Vater wirklich daran geglaubt hatte, eine Finanzierung
für diese Vorhaben zu finden, um sie tatsächlich realisieren zu können. Anfangs
vermutlich ja, und dieser einfache Gedanke war betrüblich, denn im Nachhinein
war es völlig offensichtlich, dass die Chancen gleich null waren. Auf jeden
Fall schien er nie so weit gegangen zu sein, ein maßstabsgetreues Modell seiner
Projekte angefertigt zu haben.
    Jed leerte die Flasche Wein, ehe er
sich wieder den Projekten seines Vaters zuwandte, da er spürte, dass die Sache
wohl immer deprimierender werden würde. Der Architekt Jean-Pierre Martin hatte
in Wirklichkeit wohl nach einer Reihe von Misserfolgen in einer Phantasiewelt
mit immer mehr Niveauunterschieden, Verästelungen und Herausforderungen an die
Schwerkraft Zuflucht gesucht und ohne jede Rücksicht auf Durchführbarkeit und
Budget unrealistische, kristalline Zitadellen entworfen.
    Gegen sieben Uhr morgens öffnete Jed
die letzte Zeichenmappe. Über der Place des Alpes dämmerte zögernd der Morgen;
das Wetter versprach, bis zum Abend grau und bedeckt zu bleiben. Die letzten
Zeichnungen seines Vaters ließen überhaupt nicht mehr an von Menschen
bewohnbare Gebäude denken. Spiralförmige Treppen erhoben sich schwindelerregend
bis in den Himmel und waren mit kleinen durchsichtigen Verbindungsgängen
verbunden, die zu unregelmäßigen, lanzettförmigen Gebäuden von blendendem Weiß
führten, deren Formen manchmal an Federwolken erinnerten. Im Grunde, sagte sich
Jed beim Zuklappen der Zeichenmappe traurig, hatte sein Vater nie den Wunsch
aufgegeben, Schwalbennester zu bauen.

 
    J ED MACHTE SICH KEINERLEI Illusionen darüber, wie ihn die Bewohner des Dorfes,
in dem seine Großeltern gelebt hatten, aufnehmen würden. Er hatte es vor vielen
Jahren schon feststellen können, als er mit Olga durch die französische Provinz gereist
war: Abgesehen von einigen ausgesprochen touristischen Regionen wie etwa dem
provenzalischen Hinterland oder der Dordogne sind die Landbewohner im
Allgemeinen ungastlich, aggressiv und dumm. Wenn man auf der Reise unliebsame
Belästigungen und Scherereien aller Art vermeiden wollte, war es in jeder
Hinsicht vorzuziehen, nicht von ausgetretenen Pfaden abzuweichen. Und diese nur latente Feindseligkeit
durchreisenden Besuchern gegenüber verwandelte sich in offenen Hass, sobald
sich diese ein Haus in der Nähe kauften. Die Antwort auf die Frage, wann die
Einheimischen in einer ländlichen französischen Region jemanden akzeptierten,
der von auswärts kam,
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