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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut
Autoren: Marcel Feige
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Gesing den Satz.
    »Ja, bei lebendigem Leib. Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimme daran war, dass Max alles ... mit ansehen musste. Er wurde wach, weil er ein Geräusch gehört hatte, und lief in das Zimmer seiner Eltern. Damals war er gerade zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sie können sich vorstellen, was für ein Schock das für ihn war.«
    »Ja«, war das Einzige, was Sera dazu einfiel.
    »Alle dachten, Max hätte das Trauma überwunden. Allein schon wegen seines jüngeren Bruders.«
    »Robert.«
    »Ja, gut möglich, dass er so hieß. Aber genau weiß ich es nicht mehr.« Der Hausmeister hielt im Putzen seiner Brille inne, blickte durch die Beamten hindurch in die Vergangenheit. »Die beiden Brüder sind in verschiedenen Heimen aufgewachsen. Irgendein sturer Amtsschimmel hatte das damals so entschieden – zum Leidwesen der Jungs. Sie haben sehr unter der Trennung gelitten. Später kam Max in eine Pflegefamilie. Sein Bruder blieb, soweit ich weiß, im Heim. Als Max dann seine Ausbildung bei uns begann, erzählte er mir, er hätte seinen Bruder schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Das hat er …« Er seufzte.
    »Er hat was?«, wiederholte Sera.
    »Ich glaube, er hat das alles wohl nicht mehr ausgehalten. Unbemerkt ist die Angst in ihm gewachsen. Denn Schizophrenie, wissen Sie, das ist erblich.« Überrascht bemerkte Arthur Beer, dass er die Brille noch immer putzte. Er klappte das Gestell zusammen und schob sie in seine Hemdtasche. »Vielleicht hatte die Krankheit ihn sogar schon befallen. Aber das konnte man nicht mehr herausfinden.«
    »Was ist passiert?«
    »Es war im Winter vor zwanzig Jahren, draußen fror und schneite es, da ist er bei den Proben einfach aufgestanden, hat die Oper verlassen und ist …« Sein Blick richtete sich auf die Beamten. Tränen funkelten in den Augenwinkeln. »Er ist einfach verschwunden, abgehauen. Zumindest dachten wir das.«
    Sera spürte einen Kloß im Hals.
    »Ich war es, der ihn am nächsten Morgen fand. In der Abstellkammer. Er hatte sich erhängt. Neben ihm auf dem Stuhl lag seine Geige. Es war furchtbar.«
    »Das heißt, er ist tot?«, fragte Gesing.
    »Ja, schon seit zwanzig Jahren.«

EPILOG
    Das sanfte Licht der Nachttischleuchte schmeichelte dem Gesicht des Mannes. Er lächelte, während er aus dem Fenster blickte. Erst als Tania vor ihm am Krankenbett stand, erkannte sie, dass seine Augen leer und glasig waren.
    »Was ist mit Robert?«, fragte sie den Arzt, der hinter ihr im Türrahmen lehnte.
    Er räusperte sich. »Wir haben ihm ein Sedativum verabreicht.«
    Trauer überkam Tania. Sie spürte die Tränen in ihren Augen, aber sie wollte nicht weinen. Nicht um Robert. Sie wandte sich ab und lief an dem Mediziner vorbei in den Gang. Auf einem Stuhl neben der Tür hockte ein Polizist. Daneben wartete die Kommissarin.
    »Haben Sie mit ihm gesprochen?«, fragte Tania.
    Sera nickte. »Er ist davon überzeugt, dass sein Bruder die Morde begangen hat.«
    »Max?«
    Der Arzt machte ein bedauerndes Gesicht. »Herr Babicz leidet unter einer schweren psychischen Störung. Unsere Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber vieles spricht für eine paranoide Schizophrenie. Die Krankheit ist nicht selten, man geht sogar davon aus, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung davon betroffen ist. Sie führt zu formalen und inhaltlichen Denk- und Wahrnehmungsstörungen. Der Patient hört Stimmen, sieht Personen, die nicht existieren. So glaubt Herr Babicz, dass sein Bruder lebt. Er behauptet sogar, Max habe ihn bereits in der Klinik besucht.«
    »In seiner Vorstellung hat Max Vergeltung geübt«, fügte Sera hinzu. »Rache für das, was den beiden Brüdern nach dem Tod ihrer Eltern zugestoßen ist.«
    Tanias Blick irrte von der Kommissarin zum Arzt und zurück.
    »Er hat Ihnen nie davon erzählt?«, staunte Sera.
    »Ich sagte doch, er hat nie viel erzählt.«
    Sera ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie erklärte: »Roberts Vater war ebenfalls krank. Er war schizophren. In einem seiner Anfälle brachte er seine Frau um, danach sich selbst – vor Max’ Augen. Max selbst hat im Alter von einundzwanzig Jahren Selbstmord begangen.«
    »Dafür hat Robert Vergeltung geübt?« Tania begriff nicht. »Was haben die ermordeten Personen damit zu tun?«
    »Der heutige Innensenator Dr. Lothar Lahnstein war damals der verantwortliche Amtsleiter der Jugendfürsorge, der entschied, dass Max und Robert in unterschiedlichen Heimen untergebracht wurden.«
    »Und warum
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