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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut
Autoren: Marcel Feige
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keine Sorgen um mich.« Mit einem Lächeln hob Max die Hand zum Gruß. »Ich bin doch dein großer Bruder.«
    »Robert!« In Tanias Stimme lag helle Panik.
    Endlich nahm Robert ihre Hand, streichelte vorsichtig ihre Haut. »Bo, es ist vorbei.«
    »Robert!«, schrie sie. »Mit wem redest du da?«
    Robert drehte sich zu seinem Bruder um. Max war verschwunden. Sein Blick streifte die Schlagzeilen an der Wand. Die meisten Artikel der Zeitungsausschnitte handelten von ihren Eltern. Einige von Max. Aber das war unmöglich. Das ist es doch, oder? Tanias Hand entglitt seinen Fingern, als er zu lesen begann. Artikel für Artikel. Vielleicht war es doch besser, den Verstand zu verlieren? Vielleicht hast du ihn schon verloren.

122
    Der Intendant ging ihnen durch einen langen, schmalen Raum voran, der von nackten Glühbirnen erhellt wurde, die von der Decke baumelten. Der dumpfen Musik nach zu urteilen, die durch die Wände dröhnte, befanden sie sich neben dem Konzertraum.
    »Das hier ist eine Art Wartezimmer«, verriet Lascaux. »Hier warten die Darsteller auf ihren Auftritt.«
    »Aha«, machte Gesing.
    Die Geräusche wurden leiser, und sie durchquerten einen weiteren Raum, in dem Bühnenrequisiten verstreut lagen, als wäre eine Bombe eingeschlagen.
    »Unsere Abstellkammer.« Lascaux klang, als fühlte er sich zu einer Entschuldigung genötigt.
    Sera hatte Mühe, sich zu beherrschen. Da lag jetzt irgendwo in Berlin eine junge Frau auf der Folterbank, blickte einem grausamen Tod ins Auge, und Lascaux unternahm mit ihnen eine Opernführung.
    In einer offenen Tür flatterte ein Vorhang. Jetzt befanden sie sich hinter der Bühne, an der Rückseite des Gebäudes. In einer kleinen Kammer kämpften sie sich durch weitere Requisiten, bis sie einem kauzigen alten Mann gegenüberstanden, der einsam den staubigen Boden fegte. Durch seine Brille musterte er die Neuankömmlinge und lächelte dann erfreut über die Gesellschaft, die ihm unverhofft zuteilwurde.
    »Arthur Beer«, stellte Lascaux ihn vor. »Unser Hauswart. Die gute Seele der Oper, wenn Sie so wollen.«
    »Jederzeit gerne zu Diensten.« Der alte Mann deutete eine höfliche Verbeugung an.
    »Und das sind Frau … Äh, wie war noch gleich Ihr Name?«
    »Muth. Sera Muth. Kriminalhauptkommissarin. Und das ist mein Kollege Gesing.«
    »Sehr angenehm.« Schmunzelnd reichte Arthur Beer ihnen die Hand. »Habe ich meinen Wagen wieder falsch geparkt? Sie müssen entschuldigen, in meinem Alter, zwei Jahre von der Rente, sieht man …«
    »Nein, Arthur«, unterbrach Lascaux. »Die Beamten sind wegen der Sache damals hier.«
    Der Hauswart stellte den Besen beiseite. »Welche Sache damals?«
    »Dieser Junge, Max Babicz. Erinnerst du dich?«
    »Ja, natürlich erinnere ich mich.« Arthur Beer setzte die Brille ab, und mit ihr schwand auch die Erheiterung auf seinem Gesicht.
    »Herr Lascaux sprach von einer tragischen Sache«, drängte Sera.
    »Ja, aber das ist fast zwanzig Jahre her. Max war damals … so etwas wie ein Sohn für mich. Er hatte ja sonst niemanden. Ich habe alles versucht, aber …« Der alte Mann schwieg beklommen. Nervös putzte er die Brillengläser mit einem Hemdzipfel.
    Sera wurde ungeduldig. »Was genau ist vor zwanzig Jahren passiert?«
    »Damals hat Max eine Ausbildung im Orchester der Deutschen Oper absolviert. Alle dachten, es ginge ihm gut. Auch ich. Ich war der Meinung, wenn ich mich um ihn kümmere, würde es die Sache für ihn erträglicher machen. Er litt sehr darunter, auch nach der langen Zeit. Was niemand gemerkt hat, auch ich nicht: Er hatte Angst. Furchtbare Angst.«
    »Angst wovor?«
    »Angst davor, so zu enden wie sein Vater.«
    Je mehr der alte Mann erzählte, desto weniger verstand Sera. »Was ist mit seinem Vater passiert?«
    »Er hat sich …« Beer rieb immer heftiger über die Brillengläser. »Er hat sich umgebracht. Und zuvor hat er seine Ehefrau getötet. Eines Nachts ist er an ihr Bett geschlichen, in ihrem Haus in Ruhleben. Daran kann ich mich noch ganz genau erinnern, die Zeitungen waren voll damit, jedes noch so kleine Detail hat man in die Öffentlichkeit gezerrt. Ja, das war schon eine ekelerregende Sache.«
    »Weshalb hat er seine Frau umgebracht?«
    »Er war krank. Und niemand hat es gemerkt. Er lebte manchmal … wie sagt man? In einer anderen Welt. Später sprachen die Ärzte von Schizophrenie.«
    Sera kam ein schrecklicher Gedanke. » Wie hat er sie getötet?«
    »Er hat sie …« Beer stockte.
    »… gehäutet«, vollendete
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