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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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I.I
    O wehe, weh mir! Was für Blut befleckt
    Die Steine hier an dieses Grabmals Schwelle?
     
    Es dauerte eine Weile, bis ich wusste, wo ich anfangen sollte. Man könnte behaupten, dass meine Geschichte bereits vor über sechshundert Jahren mit einem Straßenraub in der mittelalterlichen Toskana begann - oder erst viel später, mit einem Tanz und einem Kuss im Castello Salimbeni, als meine Eltern sich das erste Mal begegneten. All das jedoch erfuhr ich nur durch ein Ereignis, das mein Leben über Nacht veränderte und mich zwang, nach Italien zu reisen und mich auf die Suche nach der Vergangenheit zu begeben. Besagtes Ereignis war der Tod meiner Großtante Rose.
    Umberto brauchte drei Tage, um mich zu finden. Angesichts meiner Begabung in der Kunst des Verschwindens überrascht es mich, dass er es überhaupt schaffte. Wobei Umberto seit jeher die unheimliche Fähigkeit besitzt, meine Gedanken zu lesen und meine Schritte vorherzusagen. Außerdem gibt es in Virginia ja nur eine begrenzte Anzahl von Shakespeare-Sommercamps.
    Wie lange er dort an der Rückseite des Raumes stand und der Aufführung zusah, weiß ich nicht. Ich war wie immer hinter der Bühne und zu sehr mit den Kindern beschäftigt - voller Sorge, ob sie ihren Text noch konnten und mit ihren Requisiten zurechtkamen -, so dass ich nichts anderes um mich herum wahrnahm, bis der Vorhang fiel. Nach unserer Generalprobe am Nachmittag hatte jemand das Giftfläschchen verlegt, so dass Romeo nun mangels besserer Alternativen mit Tic-Tacs Selbstmord begehen musste.
    »Aber von denen bekomme ich Sodbrennen!«, beschwerte sich der Junge mit der ganzen anklagenden Angst eines Vierzehnjährigen.
    »Großartig!«, konterte ich und widerstand dem mütterlichen Drang, die Samtkappe auf seinem Kopf zurechtzurücken. »Dann kannst du dich besser in deine Rolle hineinversetzen.«
    Erst, als hinterher das Licht wieder anging und die Kinder mich auf die Bühne zerrten, um mich dort mit Dankbarkeit zu überschütten, bemerkte ich die vertraute Gestalt, die hinten in der Nähe des Ausgangs stand und mich über das applaudierende Publikum hinweg betrachtete. Mit seinem dunklen Anzug und der Krawatte wirkte Umberto so ernst und stattlich, dass er aus der Menge hervorstach wie ein einzelner Halm der Zivilisation aus einem urzeitlichen Sumpf. Das war schon immer so gewesen. Seit ich mich erinnern konnte, hatte er niemals auch nur ein einziges Kleidungsstück getragen, das als leger zu bezeichnen war. Khakishorts und Golfhemden galten bei Umberto als die Bekleidung von Männern, die keinerlei Tugenden mehr besaßen - nicht einmal Schamgefühl.
    Als der Ansturm dankbarer Eltern nach einer Weile abebbte und ich endlich die Bühne verlassen konnte, wurde ich noch kurz vom Programmdirektor aufgehalten, der mich an den Schultern packte und herzlich schüttelte. Er kannte mich zu gut, um eine Umarmung zu wagen. »Gut gemacht, Julia«, rief er laut, »Sie haben wirklich ein Händchen für die jungen Leute! Ich darf doch nächsten Sommer wieder mit Ihnen rechnen?«
    »Auf jeden Fall«, log ich im Weitergehen. »Ich werde zur Stelle sein.«
    Als ich endlich auf Umberto zutrat, suchte ich vergeblich nach dem kleinen Funken Glück, der für gewöhnlich in seinen Augenwinkeln stand, wenn er mich nach langer Zeit wiedersah. Diesmal aber konnte ich nicht einmal die Spur eines Lächelns entdecken. Plötzlich begriff ich, warum er gekommen war. Während ich wortlos in seine Umarmung sank, wünschte ich, es stünde in meiner Macht, die Realität wie eine Sanduhr auf den Kopf zu stellen. Ach, wäre das Leben doch keine endliche Angelegenheit, sondern stattdessen ein ewiger Kreislauf, in den man immer wieder durch ein kleines Loch im Universum zurückkehren könnte.
    »Weine nicht, Principessa«, flüsterte er in mein Haar hinein, »das hätte sie nicht gewollt. Wir können nicht alle ewig leben. Sie war zweiundachtzig.«
    »Ich weiß, aber ...« Ich trat einen Schritt zurück und wischte mir die Augen. »War Janice da?«
    Wie immer, wenn der Name meiner Zwillingsschwester fiel, verengten sich Umbertos Augen. »Was glaubst du denn?« Erst jetzt aus der Nähe sah ich, dass er angeschlagen und deprimiert wirkte, als hätte er sich die letzten paar Abende in den Schlaf getrunken. Doch vielleicht war das eine ganz normale Reaktion. Was sollte ohne Tante Rose aus Umberto werden? Seit ich denken konnte, waren die beiden einander in einer Notgemeinschaft aus Moneten und Muskeln verbunden gewesen - sie hatte
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