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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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die Freude an seiner Arbeit abhanden gekommen.
    »Es überrascht mich«, sagte Janice, während sie den Drink in ihrem Glas herumwirbeln ließ, »dass du noch da bist, Birdie. An deiner Stelle wäre ich längst in Vegas. Mit dem Silber.«
    Umberto gab ihr keine Antwort. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, direkt mit Janice zu sprechen. Stattdessen sah er mich an. »Die Beerdigung ist morgen.«
    »Ich kann nicht fassen«, meinte Janice, die ein Bein über die Armlehne baumeln ließ, »dass du das alles organisiert hast, ohne uns zu fragen.«
    »Sie wollte es so.«
    »Sonst noch was, das wir wissen sollten?« Janice befreite sich aus der Umarmung des Sessels und strich ihr Kleid glatt. »Ich nehme an, wir bekommen trotzdem alle unseren Anteil? Sie hat sich doch wohl nicht in irgendeine schräge Stiftung für verwaiste Haustiere verliebt, oder so was in der Art?«
    »Jetzt halt mal die Luft an«, sagte ich in scharfem Ton. Für ein, zwei Sekunden sah es tatsächlich so aus, als hätte ich Janice damit in ihre Schranken verwiesen. Dann schüttelte sie meine Worte ab, wie sie es immer tat, und griff ein weiteres Mal nach der Ginflasche.
    Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Ungeschickte spielte und dann erstaunt die perfekt gezupften Augenbrauen hochzog, um anzudeuten, dass sie keineswegs vorgehabt hatte, sich so viel einzuschenken. Während die Sonne am Horizont sank, würde Janice bald in einen Liegestuhl sinken und es anderen überlassen, die großen Fragen des Lebens zu beantworten, solange sie ihr nur ihre Drinks brachten.
    Soweit ich mich erinnern konnte, war sie schon immer so gewesen: unersättlich. Als wir noch Kinder waren, reagierte Tante Rose stets mit einem erfreuten Lachen und dem Ausruf: »Würde man dieses Mädchen in ein Gefängnis aus Lebkuchen sperren, könnte sie sich problemlos einen Weg in die Freiheit fressen!« Als wäre Janices Gier ein Grund, stolz auf sie zu sein. Allerdings stand Tante Rose nun mal an der Spitze der Nahrungskette und hatte - im Gegensatz zu mir - nichts zu befürchten. Seit ich denken konnte, hatte Janice es stets geschafft, meine geheimen Bonbonvorräte aufzuspüren, egal, wie gut ich sie versteckte. Der Ostersonntagmorgen war in unserer Familie grundsätzlich eine traurige, grausame und vor allem kurze Angelegenheit, denn er endete unweigerlich damit, dass Umberto Janice ausschalt, weil sie meinen Anteil der Schokoeier gestohlen hatte, woraufhin Janice - der noch die Schokolade vom Mund tropfte - unter ihrem Bett hervorfauchte, er sei nicht ihr Daddy und habe ihr gar nichts zu sagen.
    Das Frustrierende war, dass man es ihr nicht ansah. Ihre Haut gab ihre Geheimnisse nicht preis, sie wirkte so glatt wie der seidenmatte Zuckerguss auf einer Hochzeitstorte, und ihre Gesichtszüge waren so zart geformt wie kleine Marzipanfrüchte und -blumen, fast als hätte dort ein meisterlicher Konditor Hand angelegt. Weder Gin und Kaffee noch Scham oder Reue hatten diese schimmernde Fassade knacken könnten. Es war, als sprudelte in ihrem Inneren eine niemals versiegende Lebensquelle - als stünde sie jeden Morgen frisch verjüngt auf, erquickt vom Brunnen des ewigen Lebens: keinen Tag älter, kein Gramm schwerer, und noch immer erfüllt von einem Heißhunger auf die Welt.
    Leider waren wir keine eineiigen Zwillinge. Auf dem Schulhof bekam ich mal mit, wie jemand mich als Bambi auf Stelzen bezeichnete. Obwohl Umberto darüber lachte und mir erklärte, das sei ein Kompliment, fühlte es sich nicht so an. Selbst als ich meine linkischste Zeit hinter mir hatte, blieb mir bewusst, dass ich neben Janice immer noch schlaksig und blutarm aussah. Egal, wohin wir gingen oder was wir taten, verglichen mit ihrer gesunden Farbe und ihrer überschwenglichen Art wirkte ich stets blass und verschlossen.
    Jedes Mal, wenn wir gemeinsam einen Raum betraten, richteten sich die Scheinwerfer sofort auf sie, und obwohl ich direkt neben ihr stand, war ich nur ein weiteres Mitglied ihres Publikums. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an meine Rolle, beziehungsweise an die Tatsache, dass ich keine spielte. Ich musste mir nie Gedanken darüber machen, wie ich einen Satz zu Ende führen wollte, denn das übernahm unweigerlich Janice für mich. Wenn es doch einmal vorkam, dass mich jemand nach meinen Hoffnungen und Träumen fragte - meist war es irgendeine Nachbarin von Tante Rose, die sich beim Tee höflich danach erkundigte -, eilte mir Janice sofort zu Hilfe, indem sie mich zum
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