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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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Piano zerrte und dort den Versuch unternahm, etwas vorzuspielen, während ich ihr die Seiten umblättern durfte. Selbst jetzt, mit fünfundzwanzig, geriet ich bei Gesprächen mit Fremden noch immer ins Stocken und wand mich dann verlegen, in der verzweifelten Hoffnung, jemand möge mich unterbrechen, ehe ich für meinen Satz ein Verb finden musste.
     
    Wir begruben Tante Rose bei strömendem Regen. Der Friedhof wirkte fast so schmutziggrau, wie ich mich innerlich fühlte. Während ich an ihrem Grab stand, vermischten sich die schweren Regentropfen, die aus meinem Haar herabfielen, mit den Tränen auf meinen Wangen. Die Papiertaschentücher, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, waren in meinen Taschen längst zu Brei geworden.
    Ich hatte zwar die ganze Nacht geweint, aber nichts bereitete mich auf das Gefühl von Endgültigkeit vor, das mich überfiel, als der Sarg windschief in die Erde hinuntergelassen wurde. Solch ein großer Sarg für Tante Roses spindeldürren Körper ... Nun bereute ich plötzlich, dass ich nicht darum gebeten hatte, ihre Leiche sehen zu dürfen, auch wenn sie selbst darauf keinen Wert gelegt hätte. Oder vielleicht doch? Womöglich beobachtete sie uns gerade von irgendeinem fernen Ort und hätte uns gerne wissen lassen, dass sie wohlbehalten angekommen war. Was für eine tröstliche Idee, und zugleich eine willkommene Ablenkung von der Realität. Ich wünschte, ich könnte daran glauben.
    Die einzige Person, die am Ende der Beerdigung nicht aussah wie eine getaufte Maus, war Janice. Sie trug Plastikstiefel mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen und einen schwarzen Hut, der alles andere als Trauer signalisierte. Im Gegensatz zu ihr trug ich das, was Umberto irgendwann mal als mein »Attila, die Nonne«-Outfit bezeichnet hatte. Wenn die Botschaft von Janices Stiefeln und Ausschnitt »Alle her zu mir!« lautete, dann schrien meine klobigen Schuhe und mein zugeknöpftes Kleid definitiv: »Bleib mir bloß vom Leib !«
    Eine halbe Handvoll Leute tauchten am Grab auf, aber nur Mr. Gallagher, unser Familienanwalt, blieb hinterher da, um mit uns zu reden. Weder Janice noch ich hatten ihn bisher persönlich kennengelernt, allerdings hatte Tante Rose so oft und so liebevoll von ihm gesprochen, dass der Mann selbst nur eine Enttäuschung darstellen konnte.
    »Wenn ich richtig informiert bin, sind Sie Pazifistin?«, wandte er sich an mich, während wir gemeinsam den Friedhof verließen.
    »Jules genießt es, sich in den Kampf zu stürzen«, antwortete Janice, die munter zwischen uns dahinmarschierte und dabei die Tatsache ignorierte, dass von ihrer Hutkrempe Wasser auf uns beide herabtröpfelte, »und die Leute mit irgendwelchem Zeug zu bewerfen. Haben Sie gehört, was sie in Kopenhagen mit der kleinen Meerjungfrau ...«
    »Das reicht«, fiel ich ihr ins Wort und versuchte gleichzeitig, an meinem Ärmel einen trockenen Fleck zu finden, mit dem ich mir ein letztes Mal die Tränen aus den Augen wischen konnte.
    »Ach, sei doch nicht so bescheiden! Du warst auf der Titelseite!«
    »Und Ihr Geschäft läuft recht gut, wie ich höre?«, wandte sich Mr. Gallagher mit einem zaghaften Lächeln an Janice. »Es ist sicher eine große Herausforderung, alle glücklich zu machen?«
    »Glücklich? lieh!« Janice wäre beinahe in eine Pfütze getreten. »Glück stellt für meine Branche die schlimmste Bedrohung dar. Es dreht sich alles nur um Träume. Frustrationen. Phantastereien, die niemals Realität werden. Männer, die es nicht gibt. Frauen, die man niemals haben kann. Nur damit lässt sich Geld machen, Rendezvous für Rendezvous für Rendezvous -«
    Janice sprach weiter, aber ich hörte ihr nicht mehr zu. Es war eine große Ironie des Schicksals, dass meine Schwester als Heiratsvermittlerin arbeitete, denn sie war so ziemlich der unromantischste Mensch, den ich kannte. Ungeachtet ihres Drangs, mit jedem zu flirten, waren Männer in ihren Augen kaum mehr als laute Elektrowerkzeuge, die man einsteckte, wenn man sie brauchte, und wieder aussteckte, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten.
    Seltsamerweise wollte Janice schon als Kind geradezu obsessiv alles paarweise anordnen: zwei Teddybären, zwei Kissen, zwei Haarbürsten ... Selbst wenn wir uns gestritten hatten, setzte sie abends unsere beiden Puppen nebeneinander ins Regal, manchmal sogar Arm in Arm. So gesehen war es vielleicht gar nicht verwunderlich, dass sie sich dazu entschlossen hatte, daraus einen Beruf zu machen. Wenn es darum ging, Leute zu Paaren zu
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