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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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Hull.»
    «Das ganz bestimmt.»
    Lily hörte etwas aus meiner Stimme heraus. «Wo sind Sie eigentlich her?»
    «Aus der Nähe von Hull, an der Küste.»
    «So ein Zufall! Ich auch. Nicht zu glauben, hier am anderen Ende der Welt jemand aus der Heimat zu treffen. Da geht's mir gleich viel besser, geht's mir. Es ist was Feines, Freunde aus der Heimat zu finden, meinen Sie nicht?»
    «Ich hab da nicht besonders lang gelebt.»
    «Was zählt, sind die Wurzeln.»
    «Pflanzen und Bäume haben Wurzeln. Menschen haben Beine.»
    Wir verabredeten uns für das folgende Wochenende. Ich dachte, ich würde ihr helfen, eine Wohnung zu finden, und sie nie wieder sehen.
    So fing es mit Lily an, in meiner Geschichte. Ungeschickt und stockend. Es war also kein besonders aufsehenerregender
    Auftritt, aber wie man sehen wird, lag Lilys Stärke ohnehin weit eher in den Abgängen.
    Von all dem erzähle ich den Polizisten nichts, jedenfalls nicht, solange es nicht richtig unangenehm wird. Vorläufig gelingt es mir recht gut, sie zu ignorieren. Kameyama brüllt weiterhin auf mich ein. Seine Stimme blendet sich in mein Gehör ein und aus. Ich bekomme einzelne Satzfetzen mit. Er sagt, wenn ich mich nicht kooperativ zeige, behalten sie mich die ganze Nacht hier, holen ein, zwei Kollegen hinzu, die mir weitere Fragen stellen werden. Er schlägt vor, wir bleiben alle still sitzen, während ich darüber nachdenke, was passiert ist und was ich ihnen erzählen kann. Meine Worte ebenso wie mein Schweigen werden ernsteste Folgen haben. Er braucht mich nicht daran zu erinnern, dass in Japan bei bestimmten Arten von Mord die Todesstrafe noch immer vollstreckt wird - und zwar durch den Strang. Er teilt mir überflüssigerweise mit, dass ich heute Nacht wohl kaum viel zum Schlafen kommen werde.
    Und Stille breitet sich aus in diesem kleinen Raum mit einem Tisch und drei Stühlen. Das Zimmer entspricht ganz dem Klischee, aber ich möchte gern glauben, dass meine Gefühle durch und durch originell sind. Denn wonach es Lucy jetzt mehr als alles andere auf der Welt verlangt, ist eine Schüssel Nudeln. Konkret stünde ihr der Sinn nach udon, dicken, fetten, weißen Nudelwürmern, aber zur Not täten es auch schnörkelige ramen oder sogar zarte, magere soba. Sie hätte gern Nudeln in einem großen braunen Napf, dazu ein rohes Ei in die Brühe geschlagen, und Lackstäbchen, um sich die Nudeln zu schnappen und hinunterzuschlingen. Ich beuge den Kopf über meine imaginäre Schüssel, wie um den Duft einzuatmen.
    Die einzige Methode, Nudeln zu essen, besteht natürlich darin, sie aus der Brühe zu fischen, aber nur ein Stückchen weit, und sie dann direkt in den Mund zu saugen und so lange weiterzuschlürfen, bis in der Schüssel nur noch Brühe und ein paar schwimmende Stückchen übrig sind. Die meisten Westler, die nach Japan kommen, haben Probleme damit. Wenn man unter dem kategorischen Imperativ der lautlosen Nahrungsaufnahme aufgewachsen ist, kann man einfach nicht gut schlürfen. Und wenn man nicht schlürfen kann, kann man die Nudeln nicht hochsaugen, wodurch es unmöglich wird, sie sich auf effiziente Weise einzuverleiben. Die meisten Leute geben nach der ersten Hälfte der Schüssel auf, oder sie essen schauderhaft langsam. Ich hatte das Schlürfen sofort raus. Als ich erfuhr, dass Teiji in einem Nudellokal arbeitete, wusste ich, dass er mein Mann war. Konnte es etwa Zufall sein, dass er in so einem Lokal arbeitete?
    Gestern bin ich wieder ins Nudellokal gegangen. Ich wusste, dass ich mich mit jeder Stunde, die verstrich, weiter von Lily und Teiji entfernte, und so kehrte ich dahin zurück in der lächerlichen Hoffnung, Teiji zu sehen. Ich hatte nicht vor, ihn anzusprechen. Ich wollte ihn nur kurz von weitem sehen, seine Schulterblätter unter dem T-Shirt, oder sein Profil, während er die Tische abwischte. Dabei wusste ich wohl, dass der Laden den Besitzer gewechselt hatte und Teiji keinen Grund gehabt hätte, da zu sein. Ich wusste das, aber wie jeder gute Stalker begreifen wird, hielt mich das nicht davon ab, trotzdem nachzusehen.
    Ich erkannte schon von außen, dass das Lokal sich verändert hatte. Es war sauberer, heller, und über der Tür stand ein neuer Name. Der Rußfilm war von den Fensterscheiben verschwunden, und die schief getretene Stufe war ausgebessert worden.
    Ich ging hinein und setzte mich nervös an den Tresen, der entlang der hinteren Wand des Lokals verlief. Ein junger, frischer Kellner nahm meine Bestellung entgegen, tamago udon.
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