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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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Arbeit machte, war ich auch nicht müder oder angeschlagener, als ich mich die letzten paar Wochen gefühlt habe. Ich rechnete mit einem normalen Tag im Büro.
    Die Polizei holte mich am Nachmittag ab. Ich saß an meinem Schreibtisch und arbeitete an der Übersetzung der Beschreibung einer neuartigen Fahrradpumpe. Ich war sehr konzentriert und bemerkte die Ankunft meiner Besucher nicht. Die Arbeit war nicht sonderlich schwierig - mein Job besteht darin, langweilige technische Texte zu übersetzen, und ich mache das sehr gut —, aber sie lenkte mich von gewissen katastrophalen Ereignissen der jüngeren Vergangenheit ab. Irgendwann wurde mir bewusst, dass meine Kollegen aufgehört hatten zu arbeiten und in Richtung Tür sahen. Ich hob den Kopf. Am Eingang standen zwei Polizisten. Ich war nicht überrascht. Bestimmt auch sonst niemand. Meine Kollegen sahen von den Polizisten zu mir und wieder zurück.
    Mitten im Büro, vor einem teilnahmslosen Publikum, festgenommen zu werden war eine Erniedrigung, die ich mir lieber ersparen wollte. Ich sprang vom Stuhl auf in der Hoffnung, dem Zugriff der Polizeibeamten zuvorzukommen.
    «Das ist für mich», murmelte ich. «Sie haben wahrscheinlich noch ein paar Fragen. Nichts Aufregendes.»
    Und bevor ich den Raum durchqueren konnte -
    «Frau Fly? Wir begleiten Sie zur Wache. Sie sollen im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Lily Bridges vernommen werden. Nehmen Sie Ihren Ausländerausweis mit.»
    Ich stand vor den zwei grün Uniformierten und versuchte, sie unauffällig in Richtung Tür zu drängen.
    «Den habe ich in der Tasche. Ich gehe nie ohne ihn aus dem Haus. Aber ich habe schon jede Menge Fragen beantwortet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ihnen noch etwas zu erzählen hätte.»
    «Es haben sich neue Entwicklungen ergeben. Wir möchten, dass Sie uns zum Wagen begleiten.»
    Ich war nervös. Es gab nur eine einzige mögliche Entwicklung, die ich mir vorstellen konnte, aber ich wagte es nicht, die Frage auszusprechen. Hatten sie die fehlenden Teile von Lilys Leichnam gefunden? Mittlerweile konnten die diversen Stücke ohne weiteres von der Flut an Land gespült worden oder Fischern während der Nacht ins Netz gegangen sein. Vielleicht war es der Polizei gelungen, sie wieder zusammenzusetzen und eine Identifizierung vorzunehmen. Das wäre eine reine Formalität gewesen. Laut den Zeitungen wusste die Polizei bereits, dass es Lily war.
    Nichts war im Büro mehr so wie früher gewesen seit dem Morgen vor ein paar Wochen, als jemand die Daily Yomiuri mitgebracht hatte und sie wortlos von Schreibtisch zu Schreibtisch weitergegeben worden war, bis sie, am Nachmittag, meinen erreicht hatte. Die Schlagzeile meldete:
    Weiblicher Rumpf aus der Tokiobucht geborgen.
    Man vermutet, dass es sich dabei um die vermisste britische
    Bardame Lily Bridges handelt.
    Und seitdem hatte mich niemand mehr angesehen, nicht richtig jedenfalls. Ich weiß nicht, ob sie mich für eine Mörderin hielten oder ob sie wegen der grausigen Umstände von Lilys Tod einfach zu befangen waren, um mit mir reden zu können.
    Die Polizisten führten mich aus dem Zimmer - als wüsste ich den Weg nicht - und hinunter auf die Straße zum Wagen. Ich sah nicht nach oben. Ich wusste, dass meine Kollegen vom Fenster aus zusahen, aber es bestand keine Notwendigkeit, ihnen zuzuwinken. Ich glaube nicht, dass wir uns wieder sehen werden. Eine von ihnen werde ich vermissen, meine Freundin, Natsuko. Sie hätte gern an mich geglaubt, aber die Schlagzeile war selbst für sie zu viel, und sie hatte sich von mir abgewandt.
    Ich selbst reagierte auf die Zeitungsmeldung mit dem Gefühl, dass der Wortlaut, so knapp er auch war, Lily missfallen hätte. Eine Bardame war sie nur in Japan. Zu Hause in Hull war sie Krankenschwester gewesen. Sie war eine gute Krankenschwester, wie ich bei unserer Wanderung in Yamanashi-ken festgestellt hatte, als ich beim Abstieg ausgerutscht und gestürzt war. Sie hatte mir hinuntergeholfen und so gekonnt und teilnahmsvoll den Knöchel bandagiert, dass ich beinah geweint hätte. Aber in der Bar war sie ungeschickt und verhuscht. Sie redete mit einer so hohen und weinerlichen Stimme, dass man am liebsten über den Tresen gehüpft wäre und sich selbst bedient hätte. Der Job in der Bar war nur als Übergangslösung gedacht gewesen.
    Aber jetzt ist Lily tot, und ich bin auf der Polizeiwache. Das ist mein erster Kontakt mit der japanischen Justiz, sieht man von ein paar onkelhaften Fragen unmittelbar nach
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