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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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ich irrtümlich wegen Mordverdachts festgenommen wurde. Wenn ich eine nette Antwort bekomme, könnte es sogar sein, dass ich zu Weihnachten rüberfliege und ein paar Tage bei ihm in Yorkshire bleibe. Lilys Eltern wohnen nur fünfundzwanzig Kilometer weiter. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich über den Besuch von jemandem, der Lily in Japan kannte, freuen würden. Anschließend werde ich nach Tokio zurückkehren, zu Frau Katoh, denn ihr Haus ist groß genug für zwei, sagt sie. Und sie sagt es zwar nicht, aber ich weiß, dass es ihr Freude macht, sich um mich zu kümmern, mich zu betütern und zu bekochen, mir jeden Abend ein Bad einlaufen zu lassen - genau richtig, nicht zu heiß und nicht zu lau - und mir ein sauberes Handtuch herauszulegen.
    Ich lege den Stift aus der Hand und sehe hinüber zum Bahnhof. Es ist schön zuzuschauen, wie die Leute in die Züge einsteigen, wie aus einem vollen Bahnsteig binnen weniger Sekunden ein leerer wird. Der Zug trägt alle mit sich fort. Eine weitere Menschenmenge strömt durch die Sperre, und schon füllt sich der Bahnsteig wieder, scheinbar mit denselben Kleidern, Körpern und Gesichtern. Ich höre mir gern die Durchsagen an, den rührenden Hinweis, dass es gefährlich ist, den Zug zu besteigen, bevor er völlig zum Stillstand gekommen ist, und dass man bitte hinter der gelben Linie stehen bleiben soll, weil ein einfahrender Zug gleichfalls gefährlich ist.
    Neulich hatten wir in unserem Viertel eine Erdbebenübung. Sie ist ruhig und geordnet, zur vollen Zufriedenheit der verantwortlichen Behörden verlaufen. Natürlich kann man nie wissen, wann der große Knall kommt, aber es gibt doch ein paar Kleinigkeiten, die man tun kann, um seine Überlebenschancen zu erhöhen. Ich fürchte mich noch immer vor möglichen Erdstößen, aber weniger als früher. Und das ist ein weiterer Grund, warum ich gern so nah am Bahnhof wohne. Die Züge rattern
    an unserer Straße entlang und rütteln die Häuser so kräftig durch, dass man die anderen Erschütterungen, diejenigen, die unter der Erdrinde beginnen, oft gar nicht mitbekommt.
    Frau Katoh ruft zu mir heraus, dass Natsuko und Bob jetzt da sind. Ich höre sie in der Diele schwatzen. Ich stehe auf und vertrete mir die Beine. Ein Zug fährt ab, saust an den Häusern und Wohnblocks vorbei und verschwindet.
    Der Balkon zittert, und ich lege die Hand aufs Geländer. Irgendwo im Himmel ist ein Geräusch, das ich nicht identifizieren kann, aber es erinnert mich an meine alte Wohnung, und ehe ich Gelegenheit habe, genau hinzuhören, ob es der Erdbebenvogel ist, rattert ein weiterer Zug in den Bahnhof. Ich fröstle, weise mich darauf hin, dass der Erdbebenvogel immer nur nachts kam, das hier also etwas anderes sein muss. Aber das Geräusch trägt ein Bild mit sich: Lily, die unter meinem Tisch kauert, im Licht der Laterne, und noch eins: ihr Körper, in dem Schuppen zusammengequetscht. Ich erinnere mich an die Frau, an die stückweise in die Bucht gestreute Frau, deren Namen ich niemals wissen werde. Dann denke ich an Sachi. Bitte nicht. Das Geräusch, oder vielleicht auch nur sein Echo, hallt mir noch in den Ohren. Ich schaue hinauf in den Himmel, der jetzt grau und schwer geworden ist, aber da sind keine Vögel.
    Einen Augenblick lang ist alles still. Dann ein Rascheln zwischen den Bäumen, als schliche jemand aufs Haus zu. Meine Haut wird kalt. Ich stehe völlig regungslos da. Ich sage mir, dass es der Hund der Nachbarn ist, aber ich weiß, dass Hunde nicht schleichen. Mein Mund ist trocken. Und dann höre ich es. Das unverwechselbare Klicken eines Kameraverschlusses. Das nachfolgende Surren des Motors, der den Film weiterspult. Ich halte nach Teiji Ausschau, sehe aber nur Bäume und Sträucher. Ich horche nach seinen Schritten, aber jetzt scheint das Klicken leise durch den ganzen Park, aus jeder Richtung widerzuhallen, und ich weiß nicht, wohin ich mich umdrehen soll. Ich
    strecke die Hand aus und spüre den Regen, kleine harte Wassertropfen, die einzeln auf meiner Haut und den Blättern und dem Balkongeländer landen. Potsu potsu fällt er, wird dann schwerer, wie Eiskörner. Ich wende mich ab, um ins Haus zu gehen, aber ich weiß, dass Teiji hier draußen auf mich wartet, und ich hoffe, dass die Wärme dieses Zuhauses und meiner Freunde ausreichen wird, um mich hier festzuhalten. Ich hoffe es aus tiefstem Herzen. Und trotzdem.
     
     
    ENDE
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