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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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Während ich wartete, wischte ich mir mit meinem Händehandtuch den Schweiß von der Stirn. Ich nahm ein Paar hölzerne Essstäbchen und knackte sie auseinander. Der dampfende Napf kam, und ich fing an zu essen. Die Nudeln waren köstlich, aber als ich in die Schüssel sah, musste ich - vielleicht infolge der jüngsten Ereignisse - plötzlich an einen Mordfall denken, über den ich vor ein paar Jahren gelesen hatte.
    Der Mörder hatte einen Stand, an dem er Nudeln verkaufte. Und er hatte einen Toten, den er entsorgen musste. Um das Problem mit den Fingerabdrücken zu umgehen, hackte er der Leiche die Hände ab. Dann machte er sich daran, die äußeren Hautschichten von den Händen zu kochen, indem er letztere in der heißen Nudelbrühe ziehen ließ, auf offener Straße, unter den ahnungslosen Augen seiner hungrigen Kunden. Ich weiß nicht, wie er gefasst wurde, aber ich machte mir so meine Gedanken darüber. Fiel einem Passanten im Vorbeigehen auf, dass in der köstlichen sprudelnden Suppe eine menschliche Hand an die Oberfläche trieb? Fand ein Kunde, dass die Brühe ein bisschen mehr Hautgout hatte, als sie eigentlich sollte?
    Ich dachte an Lily, und ein paar Sekunden lang schmeckten die Nudeln süßer. Dann bildete ich mir ein, Teiji stünde hinter mir und beobachtete mich stirnrunzelnd bei meinem Akt von metaphysischem Kannibalismus. Ich legte meine Stäbchen hin. Eines fiel hinunter und landete auf dem Fußboden. Ich bückte mich danach, während ich spürte, wie mir die Tränen kamen, und stieß dabei meinen Napf vom Tresen. Er zerbrach, und Nudeln und Brühe spritzten auf den Fliesen auseinander. Ich spürte, wie die Augen sämtlicher Gäste geflissentlich an mir vorbeisahen. In Großbritannien hätte ich vielleicht einen kurzen Applaus geerntet. Ich versuchte, einen Kellner zu rufen, aber meine Stimme ging in leisen, tiefen Schluchzern unter, die so klangen, als kämen sie von jemand anderem.
    Ein Kellner kam mit Kehrschaufel, Handbesen und Mopp herbeigeeilt. Er versicherte mir, es sei überhaupt kein Problem, obwohl ich ihm ansah, dass er kaum wusste, welches Utensil er zuerst benutzen sollte. Bevor ich «Nein, danke» sagen konnte, hatte ein weiterer Kellner eine volle Schüssel Nudeln, mit den besten Empfehlungen des Hauses, vor mich auf den Tresen gestellt. Ich hatte keine andere Wahl, als wieder von vorn anzufangen. Nach ein paar Minuten hörte mein kindisches Weinen auf. Nachdem ich mir Augen und Nase mit meinem Händehandtuch abgetrocknet hatte, fühlte ich mich ein bisschen besser und fing an zu essen.
    Als der letzte Zentimeter Nudel in mir verschwunden war, brannten mir lediglich die Augen noch ein wenig. Ich fühlte mich so, als wäre ich fachgerecht verarztet worden. Durch wen? Durch die Nudeln, obwohl ich mich dabei ertappte, wie ich an eine nette Krankenschwester aus meiner Kindheit dachte und dann an die andere Krankenschwester, die ich gekannt hatte: Lily. Als ich das Lokal verließ, fühlte ich mich satt und zufrieden. Ich werde jetzt versuchen, mich an der Erinnerung ein den Geschmack zu stärken. So langsam tut mir vom Sitzen auf diesem unbequemen Stuhl der Rücken weh. Ich nehme an, es ist mir gestattet, einen Augenblick aufzustehen und mich zu strecken. Ich bewege mich und fühle mich ein bisschen besser. Die Polizisten starren mich mit gleichermaßen überdrüssigen Mienen an. Ich ignoriere sie.
    Wie gesagt, hatte ich mich bereit erklärt, mich mit Lily zu treffen und ihr bei der Wohnungssuche zu helfen. Und so wartete ich auf sie, obwohl sie mir absolut gleichgültig war, am Bahnhof von Itabashi. Sie kam zehn Minuten zu spät und entschuldigte sich deswegen die nächsten fünfzehn Minuten lang. Sie plapperte in einem fort über die Unzumutbarkeit ihrer derzeitigen Unterkunft und erwartete von mir, dass ich ihr zuhörte. Zeitweise tat ich es, aber dann auch wieder nicht. Es fällt mir schwer, mich bei Gesprächen länger zu konzentrieren, und meine Gedanken schweiften bald ab. Ich dachte daran zurück, wie ich selbst seinerzeit versucht hatte, in Tokio eine Wohnung zu bekommen, und mich Scharen von Immobilienmaklern abgewiesen hatten, weil ich Ausländerin war. Es hatte Wochen gedauert, etwas zu finden. Am Ende hatte ich mich mit einer winzigen Einzimmerwohnung über einer lauten Tankstelle mit Autowerkstatt zufrieden gegeben, weil ich von der Sucherei genug hatte. Mittlerweile war sie mir allerdings ans Herz gewachsen, und ich hoffte, ich würde da nie wieder auszuziehen brauchen.
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