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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland
Autoren: Marcia Muller
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    Der Tufa Lake liegt im wüstenähnlichen
nordostkalifornischen Hochland, nur wenige Meilen von der Grenze zu Nevada
entfernt. Die Landschaft zeigt vulkanische Formationen. Berge aus dunklem
Basalt begrenzen den See an drei Seiten. Die vierte besteht aus einer Kette von
Kratern voller Asche und Bimsstein. Vom Fuß der Berge erstreckt sich bis zum
Seeufer eine Kalisalz-Ebene, bedeckt mit Beifuß und Tundragewächsen. Aus dieser
erheben sich geisterhaft die weißen Tufa-Türme, stumme Zeugen des habgierigen
Mißbrauchs der Natur durch den Menschen.
    Diese knorrigen Zinnen sind
versteinerte Vegetation. Mineral- und kalkreiche unterirdische Quellen speisten
den See, der sie einst vollständig bedeckte. Sie wurden in dem Maße sichtbar,
wie die Zuflüsse des Sees in die Wasserleitungen und Swimmingpools
Südkaliforniens abgeleitet wurden. Sie stehen zu Hunderten über die Ebene
verstreut. Andere bilden Inseln, auf denen ins Land gezogene Möwen, Seetaucher
und Regenpfeifer nisten, brüten und sich am Überfluß der Garnelen in dem
salzigen See gütlich tun. Die vielen Farbtöne des unbeständigen Wüstenhimmels
spiegeln sich in dem fast immer unheimlich ruhigen Wasser, von dem die Vögel
auffliegen.
    Trotz des nahen Highways und der unweit
am See gelegenen Stadt Vernon herrscht an diesem Ort große Stille. Steht man am
Ufer, wie ich, als ich an einem Oktobertag zum erstenmal in diese Gegend kam,
kann man sich leicht vorstellen, wie es hier vor hundert Jahren ausgesehen
haben mag oder in hundert Jahren aussehen wird. Und wenn eine Möwe schreit und
sich steil zur Sonne aufschwingt, dann werfen die Berge rundum die Laute wie
Gewehrschüsse zurück.
    Es ist ein zeitloser Ort — ein Ort, an
dem Echos lebendig werden.
    Ich wandte mich vom See ab und ging den
steinigen Hang hinauf zu den Hütten der Feriensiedlung. Es gab im ganzen sechs
davon und ein Empfangsgebäude. Sie waren aus dunkelbraunem Holz, hatten grüne
Dächer und Fensterläden und lagen in einem Wäldchen aus Pappeln und Weiden.
Zwischen ihnen und den unbebauten Hügeln verlief der Highway. An den unteren
Hängen der Hügel wuchsen dichtgedrängt gelbblätterige Espen. Sie sahen aus wie
geborstene Goldadern, die sich über den Boden ergossen hatten. Bei meiner
Ankunft eine Stunde zuvor war es warm gewesen — viel zu warm für diese Höhe im
späten Oktober. Doch jetzt war die Sonne hinter den hohen Gipfeln verschwunden,
und es wurde regelrecht frostig.
    Ich stieg die Stufen hinauf und betrat
über die Veranda die am weitesten links gelegene Hütte. Das kleine Wohnzimmer
sah aus wie alle Sommersitze auf dem Lande: ein Rattansofa und Sessel mit
plattgesessenen, verblichenen Polstern mit Blumenmuster; in einer Ecke ein
Kanonenofen zum Verfeuern von Holz; vor der Tür, die zur Küche führte, eine
Eßgruppe aus Resopal und Metall. Auch der Geruch war überall gleich: modrig von
vertrockneten Küchenresten, abgestandenen Kochgerüchen, verbranntem Holz und
Alter. Ich trat an eines der Fenster zur Veranda und schob es am Griff hoch. Es
ächzte müde, und ein leicht fischiger, aber frischer Lufthauch zog langsam
herein.
    Als ich mich umdrehte, sah ich
Anne-Maries Nachricht vom Kaffeetisch zu Boden flattern. Ich hob den Zettel auf
und las ihn. »Bin in Lee Vining, um mit Leuten vom Mono-Lake-Komitee zu reden.
Bin gegen halb sechs zurück. Wir treffen uns dann bei Zelda’s.«
    Ich mußte lächeln, weil meine Freundin
keinerlei Erklärung, was es mit Zelda’s auf sich hatte, und nicht einmal eine
Adresse aufgeschrieben hatte. Natürlich wäre ihr nie in den Sinn gekommen, daß
es einer Privatdetektivin nicht gelingen sollte, dergleichen in einer Stadt mit
weniger als 200 Einwohnern und nur wenigen Straßen herauszubekommen. Und
tatsächlich hatte sie sich diese Mühe mit Recht gespart: Ich hatte das
Restaurant schon auf der Hinfahrt durch Vernon erspäht.
    Es war erst kurz nach vier, aber ich
entschloß mich doch, erst in Anne-Maries Büro vorbeizuschauen — für den Fall,
daß sie früher zurück war. War sie es nicht, würde ich von mir aus ein wenig
auf Erkundungstour gehen. Durch einen Bogen mit Vorhang ging ich in eines der
beiden Schlafzimmer, holte mein grünes Lieblings-Sweatshirt aus der
Wochenend-Reisetasche und zog es über das leichte T-Shirt. Ich bürstete mir die
Haare, band sie wieder zu einem Pferdeschwanz, griff nach meiner Tasche und den
Wagenschlüsseln und kletterte den Abhang wieder hinunter zu meinem MG, den ich
vor dem Lodge geparkt
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