Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits des Mondes

Jenseits des Mondes

Titel: Jenseits des Mondes
Autoren: Heather Terrell
Vom Netzwerk:
ich fliegen konnte, oder nicht?
    »Du siehst so aus, als hättest du dringend einen Latte Macchiato nötig«, verkündete Ruth. Sie klang genau wie immer.
    »Das hab ich auch«, gab ich zurück, wobei ich mich um denselben unverfänglichen Tonfall bemühte.
    Beim Einsteigen fiel mir wieder einmal auf, wie hübsch sie war, wenn man sich die Brille mit Drahtgestell wegdachte. Ich musste schmunzeln, als ich mich daran erinnerte, wie geschockt alle gewesen waren, als Ruth beim Herbstball ihr inneres Laufstegmodel von der Leine gelassen hatte, nur um es am darauffolgenden Montag wieder wegzusperren, als wäre nichts gewesen. Ruth war ehrlich, schlau und unheimlich schüchtern. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, und sparte sich ihre Lebendigkeit und ihr bezauberndes Lächeln für einige wenige Auserwählte auf. Der Großteil der Schüler an der Tillinghast High genügte ihren Ansprüchen einfach nicht. Ich dachte an das Gespräch, das ich beim Kaffee mit ihr führen wollte, und hoffte, dass ihr das Lächeln nicht ein für allemal vergehen würde.
    Auf der Fahrt zum Daily Grind tat ich mein Bestes, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Stattdessen versuchte ich, mir selbst Mut zu machen, indem ich mir ins Gedächtnis rief, was Michael heute Morgen in seinem zweiten Brief geschrieben hatte. Wir unterhielten uns ein bisschen, hauptsächlich über einen harmlosen Streit, den sie mit ihrem Freund Jamie wegen seiner chronischen Unpünktlichkeit gehabt hatte. Das Gespräch dauerte an, als wir unsere Kaffees bestellten und es uns nebeneinander in zwei braunen Clubsesseln gemütlich machten. Ich tat so, als sei ich brennend interessiert, und nippte an meinem Latte. Erst jetzt merkte ich, dass meine Hand zitterte. Hastig stellte ich den Becher auf den Tisch. Ich wollte nicht, dass Ruth etwas mitbekam und sich wunderte. Jedenfalls jetzt noch nicht.
    Nachdem sie zu Ende erzählt hatte, wartete ich ab, bis der Geräuschpegel im Daily Grind noch ein wenig angestiegen war. Ich schaute nach rechts und links, um ganz sicherzugehen, dass niemand mithörte. Dann beugte ich mich über die Lehne meines Sessels und schob Ruth ein Blatt Papier hin.
    Ich konnte nur beten, dass sie das, was daraufstand, nicht völlig aus der Fassung bringen würde. Noch inbrünstiger betete ich natürlich dafür, sie möge nach dem Lesen des Briefs nicht zu dem Schluss kommen, dass Michael und ich unter Wahnvorstellungen litten. Man stelle sich vor, sie würde meinen Eltern von unseren »Enthüllungen« berichten, damit die nach einer geeigneten Therapiemethode Ausschau halten konnten. Das hätte unseren Plänen einen ziemlichen Dämpfer verpasst.
    Aber es war ein Risiko, das wir eingehen mussten.
    Fragend starrte Ruth den Zettel auf ihrem Schoß an. »Was ist das?«
    »Lies einfach, Ruth. Bitte.«
    Sie lachte. »Jetzt stecken wir uns schon gegenseitig Zettelchen zu? In welcher Klasse sind wir, in der dritten?«
    Ich biss mir auf die Lippe und drängte sie, den Brief zu lesen, den Michael und ich im Schweiße unseres Angesichts verfasst hatten. Um sie nicht gleich zu Beginn total zu verschrecken, hatten wir unsere Natur in sehr vorsichtigen Worten beschrieben. Wir hatten absichtlich vage Formulierungen wie »besondere, engelsgleiche Fähigkeiten« benutzt, statt ganz direkt zu sagen, dass wir fliegen konnten – von der Tatsache, dass wir die Gedanken anderer Menschen aus ihrem Blut herauslesen konnten, ganz zu schweigen. Als Nächstes hatten wir Ruth gebeten, uns dabei zu helfen, mehr darüber herauszufinden, wer wir waren und was es mit dem Ende der Welt auf sich hatte. Auch hier hatten wir einigermaßen nebulös vom »Geheimnis der Nephilim« und von »drohendem Unheil« geschrieben. Als Letztes schließlich hatten wir ihr auseinandergesetzt, dass wir die Nachforschungen nicht selbst anstellen konnten, weil wir möglicherweise beobachtet wurden, und wie wichtig es daher war, den Anschein von Normalität zu wahren. Wir sagten ihr alles, was wir wussten – aber mit einer Schicht Zuckerguss obendrauf.
    Zögerlich nahm sie den Brief und faltete ihn auseinander. Ich hielt den Atem an. Obwohl Ruth seit fast zehn Jahren meine beste Freundin war, hatte ich keine Ahnung, wie sie auf unsere Bitte, uns bei den Nachforschungen über die Nephilim und die bevorstehende Apokalypse zu helfen, reagieren würde. Natürlich hatten wir das Wort »Apokalypse« nicht verwendet, aber Ruth war ja nicht dumm. Es war unmöglich vorherzusagen, wie sie auf die Behauptung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher