Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stirb, mein Prinz

Stirb, mein Prinz

Titel: Stirb, mein Prinz
Autoren: Tania Carver
Vom Netzwerk:
ERSTER TEIL
    SOMMERKÄLTE
    1 Es war ein Haus voller Geheimnisse. Dunkler Geheimnisse, alter Geheimnisse.
    Böser Geheimnisse.
    Das war Cam auf den ersten Blick klar. Er hatte so ein Gefühl, eine Ahnung. Das Haus war nicht nur baufällig. Es strahlte eine Trostlosigkeit aus, als würde es unter der Last seiner eigenen Verzweiflung zusammenbrechen. Ein massiver Schatten, schwärzer als schwarz.
    Das alte Haus stand auf einem Grundstück direkt am Fluss, gegenüber vom Old Siege House Pub and Restaurant am Fuße des East Hill in Colchester. Nebenan war eine ehemalige Fa­brik zu schicken Apartments ausgebaut worden. Es war eine Gegend mit vielen alten Gebäuden, von denen einige noch aus Elisabethanischer Zeit stammten. Die meisten waren behutsam restauriert worden. Die Gegend hatte sich ihren ursprünglichen Charakter bewahrt, und entsprechend stark hatten die Immobilienpreise angezogen. Die Nachfrage nach solch alten Häusern war groß. Oder wenigstens nach billigen zeitgenössischen Kopien.
    Doch dafür musste zunächst einmal neues Bauland erschlossen werden. Und hier kam Cam ins Spiel.
    Als er, den morgendlichen Verkehr hinter sich lassend, in eine schmale Seitenstraße eingebogen war, hatte er sich richtig gut gefühlt. Sein erster Job nach drei Monaten Arbeitslosengeld. Hilfsarbeiter bei einer Bau- und Abrissfirma. Er war siebzehn Jahre alt und einer der wenigen aus seiner Klasse, die überhaupt einen Job bekommen hatten. Es war nicht gerade das, was er sich gewünscht hatte. Er las für sein Leben gern, wäre lieber zur Uni gegangen und hätte englische Literatur studiert. Aber er war Realist. Leute wie er gingen nicht zur Uni. Schon gar nicht in Zeiten wie diesen. Na ja, er konnte froh sein, dass er was zu tun hatte. Das war tausendmal besser, als zu Hause vor der Glotze zu sitzen und mit anzusehen, wie die Jeremy Kyle Show von Cash in the Attic abgelöst wurde.
    Rechter Hand verlief eine alte Backsteinmauer, hinter der sich ein prunkvolles georgianisches Haus erhob, das saniert und in Büroeinheiten umgewandelt worden war. Nichts als strahlend weiße Fensterrahmen und blinkende Messing­schilder. Und Bäumchen im Formschnitt, die am Ende der geschwungenen Kieseinfahrt standen und die riesige Eingangstür bewachten. Links von ihm parkten die Autos der Büroangestellten. Die heißen Motoren tickten noch.
    Cam stellte sich vor, wie es wäre, eines Tages selbst so ein Auto zu fahren. In so einem Büro zu arbeiten. Eine Sekretärin zu haben, Golf zu spielen. Na ja, Golf vielleicht nicht. Aber irgendwas in der Art. Vielleicht wären die bei der Abrissfirma mit seiner Arbeit ja so zufrieden, dass er befördert würde. Er könnte immer weiter aufsteigen, bis ganz nach oben.
    Lächelnd ging er weiter.
    Dann schlossen sich die Kronen der Bäume über ihm, der Morgen verdunkelte sich, die Luft wurde kühler. Cams Lächeln ließ ein wenig nach. Der Verkehrslärm nahm ab. Die alten Bäume mit ihren dicken Stämmen schluckten das stete Rauschen der Fahrzeuge, und an dessen Stelle trat das natürliche Säuseln ihrer Blätter. Je weiter er sich von der Straße entfernte, desto lauter wurde dieses Säuseln, überall um ihn herum wisperte und flüsterte es. Nur selten blitzte das Sonnenlicht durch den dunklen Baldachin. Cams Lächeln verschwand völlig. Er fröstelte. Fühlte sich plötzlich allein.
    Hinter der Reihe der parkenden Autos lag eine Brache. Dicke, aus alten Ölfässern gegossene Betonpfeiler, die durch eine Kette miteinander verbunden waren, umgrenzten einen von Unkraut überwucherten Schotterplatz. Die erste Verteidigungslinie, um Eindringlinge fernzuhalten.
    Dann kam der Zaun.
    Vor ihm blieb Cam stehen. Schwere, stabile Elemente aus Maschendraht mit massivem Betonfundament. Sträucher und Unkraut waren durch die Löcher gewachsen und zerrten am Zaun, als versuchten sie, ihn niederzuringen. Schilder mit der Aufschrift »Gefahr. Betreten verboten« und »Kein Zutritt« waren mit Kabelbindern am Maschendraht befestigt, unter dem Grün allerdings kaum zu sehen. Damit Neugierige gewarnt waren. Cam schenkte den Schildern keine Beachtung. Er war bloß froh, dass er nicht abends hier sein musste. Tagsüber war es schon unheimlich genug.
    Jenseits des Zauns kämpften Schutt und Unkraut um die Vorherrschaft. Dahinter stand das Haus. Cam betrachtete es eingehend.
    Ein schwarzer, kompakter Schatten, der das Tageslicht schluckte und es in seinem Innern gefangenhielt. Der nichts preisgab. Dann sah Cam an der Seite des Hauses
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher