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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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beginnt die Verhandlung. Ich würde zu spät kommen. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte ohne Flint. Irgendetwas musste ich tun. Ich würde Joern nicht im Stich lassen.
    Als ich unten im Hof ankam, klatschten hinter mir eine Menge Leute.
    Ich drehte mich um und grinste. Dort standen sie alle: Frentje, Olaf und Johann mit Südwind und Westwind am Zügel und Herr Marksen mit seiner Frau, die das Baby Elly auf dem Arm hatte. Selbst Elly versuchte zu klatschen. Und ich sagte mir, dass sie ohne Lügen und ohne Zaun aufwachsen sollte, wenn auch vielleicht mit unromantischen Papierkörben im Wald und verschlossenen Türen. Es war besser so.
    »Ich muss zur Mauer«, sagte ich. »Schnell.«
    »Das wissen wir«, sagte Frentje. »Ich habe, äh, ein bisschen gelauscht, vorhin. Bin gerade rechtzeitig weggekommen, ehe Flint mir die Tür ins Gesicht knallen konnte. Er ist vorbeigestürzt, ohne mich zu sehen.« Sie lächelte ihr breites, gutmütiges Frentje-Lächeln. »Du hast recht, Lasse«, sagte sie. »Mit allem.«
    »Aber ich weiß die Wahrheit immer noch nicht!«, rief ich. »Die Wahrheit über das Grab auf der Lichtung! Und darüber, was vor über zwanzig Jahren passiert ist!«
    »Später«, antwortete Frentje, »jetzt ist keine Zeit mehr dafür. Es ist schon halb eins.«
    »Los!«, sagte Johann. »Ich komme mit.«
    Da kletterte ich auf Westwinds und Johann auf Südwinds Rücken und wir stoben davon in den Wald.
    »Warum kommst du mit?«, rief ich Johann zu.
    »Glaubst du«, rief Johann zurück, »du kannst den alten Dickkopf ganz allein davon abhalten, die Brücke abzureißen? Glaubst du, er lässt dich vorbei, wenn niemand dir hilft?«
    Und da schämte ich mich sehr, dass ich gedacht hatte, Johann könnte der Weiße Ritter sein. Bald, bald würden wir herausfinden, wer es wirklich war. Ich hatte so ein Gefühl.
    Es war schwieriger, die Brücke einzureißen, als Flint gedacht hatte. Die Fichtenstämme wogen zwar nicht viel, er brauchte sie nur ein wenig von sich fortzuschieben, bis sie den Kontakt mit dem Felsvorsprung auf dieser Seite verloren. Doch es war, als risse er mit der Brücke ein letztes Stück seines Herzens heraus. Ein Stück, das noch nicht mit Flint Hagen gestorben war.
    Als der erste Fichtenstamm in der Tiefe verschwand, lehnte Flint sich an die Mauer und keuchte, als hätte er ein Haus bewegt.
    Lasse hat recht , sagte eine Stimme in seinem Inneren. Und sie hatte auch recht, damals.
    »Nein!«, schrie er. Das Wort hallte von den Wänden der Todesschlucht wider. Nein. Nein. Nein.
    Flint schob den zweiten Stamm fort und sah zu, wie er in die Schlucht stürzte. Der Finsterbach nahm ihn mit und zerbrach ihn an seinen Felsen. Der Stamm krachte wie Knochen zwischen den Zähnen eines Ungeheuers. Eines Kjerks.
    Es kam Flint vor, als kämpfte er selbst gegen ein Ungeheuer. Er kämpfte fünf Stämme lang.
    Und dann, dann lag nur noch ein dünner Stamm über der Todesschlucht.
    Als er sich bücken wollte, um den letzten Faden zu zerreißen, der den Norderwald mit der Schwarzen Stadt verband, hörte er Stimmen und Geschrei auf der anderen Seite des Finsterbachs. Er sah auf. Dort, zwischen den kränklichen Bäumen, preschten zwei Pferde heran.
    Es waren Nordwind und Ostwind und auf Ostwind saß Almut. Aber hinter ihr saß noch jemand. Jemand, den Flint vor langer Zeit auf einer Lichtung begraben hatte.
    Er trat hinter den Vorhang aus Efeuranken, der hier von der Mauer herabhing. Da hörte er das Getrappel von anderen Hufen, die sich auf dieser Seite durch den Norderwald näherten. Und Sekunden später kletterte neben ihm jemand durch das Loch in der Mauer.
    Lasse.

Lauf, mein Nordwind, lauf
    H ätte Flint gewusst, was eine halbe Stunde vorher geschehen war, hätte er vermutlich auch nicht mehr begriffen. Vielleicht aber doch.
    Um Viertel nach zwölf stand Joern auf der Marmortreppe vor dem Gericht. Sie war breit und besaß ein geschwungenes Geländer. Oben rahmten Säulen das Portal. Alles war darauf ausgerichtet, bewundert und gefürchtet zu werden. Joern hasste das Gebäude gleich.
    Und er hasste die Uhr zwischen den Säulen, deren Zeiger sich unerbittlich weiterbewegten. Zwanzig nach zwölf. Er wartete auf dem Absatz in der Mitte der Treppe. Die vier D waren schon hineingegangen, nur Mama wartete mit ihm. Sie hatte die Hemden ihrer Söhne so lange gebügelt, bis sie von selbst im Schrank hätten stehen können, und ihre Schuhe poliert, bis sie glänzten wie die Marmortreppe. Joern bezweifelte, dass ihnen das
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