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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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    Zwei Schüler stehen vor einer Litfaß-Säule und spucken auf ein Plakat. Dann lachen sie über die Spucke, die die Litfaß-Säule herunterrinnt. Ich gehe ein wenig schneller; früher war ich solchen Vorkommnissen gegenüber viel duldsamer. Ich bedaure, daß ich neuerdings so schnell abgestoßen bin. Wieder fliegen ein paar Schwalben durch die Fußgänger-Unterführung. Sie stürzen die U-Bahn-Station hinab und stoßen acht oder neun Sekunden später durch den gegenüberliegenden Ausgang wieder nach oben. Ich würde gerne selber die Fußgänger-Unterführung durchqueren und mich dabei seitlich von den rasenden Schwalben überholen lassen. Aber diesen Fehler darf ich nicht noch einmal machen. Vor etwa zwei Wochen habe ich diese Unterführung zum letzten Mal benutzt. Die Schwalben flitzten an mir vorüber, es dauerte leider nur zwei oder drei Sekunden. Dann entdeckte ich die nassen Tauben, die ich zunächst nicht gesehen hatte. Sie saßen zusammengedrängt in einer gekachelten Ecke. Zwei am Boden liegende Obdachlose versuchten, mit den Tauben Kontakt aufzunehmen. Weil die Vögel auf ihre Laute und Gesten nicht reagierten, verhöhnten die Obdachlosen die Tiere. Kurz danach sah ich auf meiner rechten Schuhspitze einen eingetrockneten Ketchup-Fleck. Ich wußte nicht, wie der Fleck dorthin geraten war, ich wußte nicht einmal, wie es möglich war, daß ich erst jetzt auf ihn aufmerksam wurde. Nie mehr gehst du durch diese Unterführung, sagte ich unernst zu mir selber. Auf der anderen Seite der Unterführung sehe ich Gunhild. Ich fürchte mich ein wenig vor Frauen, die Gunhild, Gerhild, Mechthild oder Brunhild heißen. Gunhild geht durch ihr Leben und macht kaum eigene Beobachtungen. Ich bin blind, sagt sie oft; sie sagt es scherzhaft, meint es aber ernst. Man muß ihr sagen, was sie sich anschauen könnte, dann ist sie zufrieden. Im Augenblick habe ich kein Bedürfnis nach einer Begegnung mit Gunhild. Ich weiche ihr aus, indem ich kurz in die Herderstraße zurücktrete. Wenn Gunhild ihre Augen öffnen würde, dann wüßte sie vielleicht, daß ich vor ihr fliehe, jedenfalls manchmal.
    Schon zwei Minuten später bereue ich, daß Gunhild nicht bei mir ist. Denn Gunhild hat dieselben Augenwimpern wie Dagmar, die ich mit sechzehn geliebt habe, damals im Freibad, auf der Bügeldecke meiner Mutter. Wo andere Frauen nur eine Wimper haben, sprossen bei Dagmar gleich zwei oder drei oder sogar vier hervor, ja, ich kann sagen, Dagmars Augen waren büschelweise mit Wimpern umsäumt. Dieselbe Art von Augenwimpern hat Gunhild. Wenn ich sie ein wenig länger anschaue, habe ich plötzlich das Gefühl, ich sitze wieder neben Dagmar auf der Bügeldecke. Ich glaube, es sind nicht Erlebnisse, die uns andere Menschen unvergeßlich machen, sondern solche körperlichen Details, die uns erst richtig auffallen, wenn wir die Personen schon lange nicht mehr kennen. Ich will heute allerdings nicht an Dagmar erinnert werden, obwohl ich bereits minutenlang an sie denke und mir jetzt sogar die Farbe ihres Badeanzugs einfällt. Unsere Kinderliebe nahm damals ein unerfreuliches Ende. Ein Jahr später erschien Dagmar mit einer Taucherbrille im Freibad. Sie zog sie jedesmal über, wenn sie mit mir ins Wasser ging. Das bedeutete, daß ich plötzlich nicht mehr ihre Augenwimpernbüschel sehen konnte, die im Wasser und in der Sonne besonders schön waren, weil sie dann glänzten und glitzerten wie kleine Zuckerkörner. Ich wagte damals nicht, Dagmar den Grund meines Rückzugs einzugestehen. Noch heute spüre ich einen kleinen lächerlichen Schmerz, wenn ich leise vor mich hin sage: Dagmar, es war die Taucherbrille.
    An der Nikolai-Kirche, wo zur Zeit ein kleiner Zirkus gastiert, fragt mich eine junge Frau, ob ich eine Weile auf ihren Koffer aufpassen kann. Ja, sage ich, warum nicht. In zehn Minuten bin ich wieder da, sagt die Frau. Sie stellt ihren Koffer neben mir ab, macht eine freundliche Geste und geht weiter. Immer wieder wundere ich mich darüber, warum mir Fremde ein solches Vertrauen entgegenbringen. Der Koffer ist klein und hat vermutlich schon viele Reisen hinter sich. Schon schauen mich Leute an und machen sich Gedanken darüber, ob der Koffer und ich zusammengehören oder nicht. Nein, wir gehören nicht zusammen. Früher habe ich angenommen, Menschen schauen einander an, weil sie sich immerzu vor dem Eintreffen schlimmer Nachrichten fürchten. Dann glaubte ich, indem sie sich anschauen, suchen sie nach Worten für die Merkwürdigkeit des Lebens.
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