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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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Spiele der Pferdepflegerin aufmerksam machen soll oder nicht. Gunhild schlägt die Augen nieder, so daß ich ihre Augenwimpernbüschel sehr gut sehen kann. Arme Dagmar! Vermutlich wäre mein Interesse an Gunhild gering, wenn sie nicht diese Wimpern hätte. Morgen oder übermorgen werde ich noch einmal hierherkommen und sehen, ob die Pflegerin wieder das Pferd bürstet. Gunhild steht neben mir. Vermutlich wartet sie darauf, daß ich sie auf irgend etwas hinweise. Die Pflegerin führt das Pferd zurück in den Stall.
    Sollen wir in den Zirkus gehen? fragt Gunhild. Sie lacht spöttisch über ihre eigene Frage.
    Warum nicht, sage ich.
    Du würdest wirklich in den Zirkus gehen? ruft Gunhild.
    Klar, sage ich, du nicht?
    Dann müßte ich dauernd denken, daß mir nichts Besseres als der Zirkus eingefallen ist, sagt Gunhild.
    Daraufhin schweige ich und sehe auf einen schlafenden Säugling, der dicht neben uns in einem Kinderwagen liegt. Der Säugling zuckt mit den Lippen, wenn er im Schlaf unbekannte Geräusche hört. Warum mit den Lippen, warum nicht mit den Fingern? Aus Bosheit gegenüber Gunhild behalte ich die Frage für mich. Die Mutter holt einen Schnuller aus ihrer Handtasche und schiebt ihn dem Kind in den Mund. Dabei rutschen eine Menge Wattestäbchen aus ihrer Handtasche. Sie fallen auf den Boden und verteilen sich vor den Füßen der Mutter. Das heißt, zwei Wattestäbchen bleiben vor Gunhilds Schuhen liegen. Oh, macht Gunhild. Die Mutter hebt alle Wattestäbchen wieder auf, außer den beiden, die vor Gunhilds Schuhen liegen. Gunhild könnte die beiden Wattestäbchen aufheben und sie der Mutter geben. Aber Gunhild kann weder in einen Zirkus gehen noch Wattestäbchen aufheben. In solchen Situationen kann Gunhild nur schnell aufbrechen. Im Grunde ist mir Gunhild deswegen sympathisch. Aber jedesmal ist sie verschwunden, ehe ich ihr meine Sympathie gestehen kann. Auch jetzt flüstert sie mir ein leises Tschüs! zu und löst sich aus der Situation. Ich schaue ihr nach, bis ich eine Frau sehe, der ein Kaugummi aus dem Rucksack gefallen ist. Die Frau ist in die Auslage eines Juweliers vertieft, sie hat den Verlust nicht bemerkt. Soll ich zu ihr hingehen und sagen: Sie haben ein Kaugummi verloren? Vielleicht würde es genügen, wenn ich sagte: Ihnen ist etwas heruntergefallen. Oder einfach: Sie haben etwas verloren. Zur Verdeutlichung (und weil ich das Wort Kaugummi nicht aussprechen mag) könnte ich mit dem Zeigefinger auf den am Boden liegenden Gegenstand deuten. Allerdings wäre (ist) mir das Deuten mit dem Finger peinlich. Es ist schrecklich, ich ähnele Gunhild, ich kann niemanden auf nichts aufmerksam machen. Vermutlich will die Frau gar nicht auf den Verlust hingewiesen werden. Die Frau ist ganz und gar in schwarzes Kunstleder eingehüllt, ich denke mal, sie ist eine Motorradfahrerin. Sie geht weiter, das Kaugummi bleibt zurück. Während sie geht, gibt das Leder leise, aber dennoch gut hörbare Quietschgeräusche von sich. Das Quietschen flößt mir sonderbarerweise die Gewißheit ein, daß es gut war, daß ich den Mund gehalten habe. Wahrscheinlich gehen sowieso die meisten Menschen heutzutage davon aus, daß man hin und wieder ein Kaugummi verliert, nur ich habe es wieder nicht rechtzeitig bemerkt. Die Motorradfahrerin interessiert sich nur für Schaufensterauslagen. Jetzt steht sie vor der Auslage eines Bäckers und betrachtet Nußhörnchen, Streuselkuchen, Blätterteig. Sie betritt den Laden und kauft sich eine Brezel. Ich kann sehen, daß sie noch im Laden beginnt, die Brezel aufzuessen. Kauend tritt sie wieder auf die Straße und stellt sich vor das Schaufenster eines Friseurs. Häuser, Hauseingänge, Klingeltafeln, Türen, Briefkästen oder Fenster schaut sie nicht an. Mir ergeht es mit Häusern oft wie mit Menschen. Man schaut Personen jahrelang, viele von ihnen sogar jahrzehntelang an und wird von ihnen ebenfalls angeschaut. Aber eines Tages sind bestimmte Häuser plötzlich verschwunden oder derart umgebaut, daß ich viele von ihnen nicht wiedererkenne und aus Verärgerung dann auch nicht mehr anschaue. Ich weiß nicht, ob heute ein solcher Tag ist oder eher nicht. Wenn ja, hätte ich wieder die Empfindung, Leuten wie mir soll mitgeteilt werden, daß sie verschwinden oder umgebaut werden sollen wie alte Häuser. Diese Empfindung verbindet sich dann mit einem Gefühl, das ich oft habe: Daß ich ohne meine innere Genehmigung auf der Welt bin. Genaugenommen warte ich noch immer darauf, daß mich jemand fragt,
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