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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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werden, ob ich auf der Welt sein möchte. Ich brauche nur ein einziges Paar Herrensocken, aber ich werde an Hunderten von Paaren vorbeigehen und mindestens ein Dutzend persönlich in die Hand nehmen müssen, ehe ich ein geeignetes Paar Herrensocken gefunden haben werde. Aber es tritt niemand an mich heran, es nimmt mich niemand zur Seite, es stellt mir niemand die Frage, ob ich jemals die Zustimmung dazu gegeben habe, daß ich hier umhergehe. Statt dessen sehe ich eine Behinderte in einem Rollstuhl durch die Gänge fahren. Im Augenblick gleitet sie an riesigen Packungen mit Toilettenpapier und ebenso riesigen Packungen mit Papierwindeln vorbei. Routiniert greift sie mit ihren kleinen Händen in die Speichen der beiden Rollstuhlräder. Ihr Anblick bewirkt, daß ich die Rasierklingen in meiner Jackentasche nun doch bezahlen möchte. Ich begreife diesen Zusammenhang nicht. Es scheint so zu sein, daß das Erscheinen einer Person, der es noch schlechter geht als mir, in mir das Verhalten eines guten Menschen hervorruft. Der Satz klingt plausibel, in Wahrheit klärt er nichts und läßt mich ratlos zurück. Ich schaue nur der mit erhöhter Geschwindigkeit davonrollenden Behinderten nach und würde in diesem Augenblick (gäbe es jemanden, der mich fragte) die Genehmigung des Auf-der-Welt-Seins vermutlich nicht erteilen. Schon stehe ich an der nächsten Kasse. Die Rasierklingen habe ich unauffällig aus meiner Jackentasche herausgeholt. Es sieht jetzt so aus, als hätte ich sie von Anfang an zur Kasse tragen wollen und als sei mir eine noch so versteckte Auflehnung gegen das nicht genehmigte Leben vollkommen fremd. Und während ich in der langen Reihe an der Kasse stehe und nur langsam vorankomme, sehe ich über die Oberkanten mehrerer Warenregale hinweg das ziemlich verwitterte Gesicht meines ehemaligen Freundes Himmelsbach. Ich habe ihn schon mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr gesehen und ebenso lang nicht mehr gesprochen. Es gibt zwischen uns ein Zerwürfnis, das ungefähr sieben Jahre zurückliegt. Es ging Himmelsbach schon damals nicht mehr gut, und er fragte mich, ob ich ihm fünfhundert Mark leihen könne. Ich gab ihm das Geld, ich habe es bis heute nicht zurückerhalten. So ging eine alte Freundschaft in die Brüche, beziehungsweise sie löste sich mehr und mehr in peinliche Situationen auf, von denen sich jetzt gerade wieder eine abzuspielen beginnt. Himmelsbach arbeitete in früheren Jahren als Fotograf in Paris. Das heißt, er wollte als Fotograf in Paris arbeiten, er hatte sich sogar eine kleine Wohnung im 8. Arrondissement gemietet, die er mir einmal für vierzehn Tage zur Verfügung stellte, während er in Südfrankreich auf Reisen war. Die Wohnung hatte eine kleine Küche, ein kleines Bad, ein größeres und ein kleineres Zimmer. Das große Zimmer durfte ich nicht benutzen, es war sein Privatraum und während seiner Abwesenheit abgeschlossen. Schon am ersten Tag, als ich allein in der Wohnung war, stellte ich fest, daß es in das für mich bestimmte kleine Zimmer hereinregnete. Im Fenster fehlte außerdem ein großes Stück der Scheibe, so daß der Wind hereinzog und das Zimmer praktisch immer kalt war. Ich hielt mich deshalb die vierzehn Tage weitgehend draußen auf und benutzte die Wohnung nur zum Übernachten. Als Himmelsbach zurückkehrte, öffnete er das als Privatraum bezeichnete große Zimmer, das vollkommen trocken geblieben war und außerdem über einen funktionierenden Heizkörper verfügte.
    Ich verstand, es war meine Aufgabe, nicht darüber zu sprechen, daß es in das kleinere Zimmer hereinregnete und daß das Fenster undicht und der Raum in Wahrheit nicht bewohnbar war. Am folgenden Tag reiste ich ab, lieh Himmelsbach aber kurz zuvor noch fünfhundert Mark. Denn es klappte nicht, sein Leben als Fotograf in Paris. Er fotografierte zwar jeden Tag, aber er hatte große Probleme, seine Bilder an Zeitungen und Zeitschriften zu verkaufen. Es gibt viel zu viele Fotografen in Paris, fluchte er und sah mich an, und ich sagte, weiß Gott, es gibt viel zu viele Fotografen in Paris. Meine Antwort war boshafter, als ich zunächst wußte. Denn es steckte in ihr die Möglichkeit, daß Himmelsbach selbst zu den Fotografen gehörte, die zuviel waren. Kurz danach sagte Himmelsbach, er hätte mich nur deswegen in seine Wohnung eingeladen, weil er während seiner Abwesenheit Angst vor Einbrechern hatte. Ich vermute, er hat das Fotografieren inzwischen aufgegeben. Jedenfalls trägt er seine Kamera nicht mehr
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