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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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Denn in den Blicken der Leute schwirrt diese Merkwürdigkeit unablässig hin und her, ohne sich doch je anschauen zu lassen. Heute denke ich kaum noch etwas, ich schaue nur umher. Wie man sieht, bin ich dabei ins Lügen verfallen. Denn es ist nicht möglich, in den Straßen umherzugehen, ohne etwas zu denken. Im Augenblick denke ich gerade, wie schön ich es fände, wenn die Menschen plötzlich wieder arm wären. Und zwar alle, und alle auf einmal. Wie schön es wäre, wenn ich sie ohne ihre Sonnenbrillen sehen könnte, ohne ihre Handtaschen, Sturzhelme, Rennräder, ohne ihre Rassehunde, Rollschuhe, Funkuhren. Sie sollten nichts am Leib haben als die paar Fetzen, die sie schon vor Jahren am Leib hatten, wenigstens eine halbe Stunde lang.
    Ich kann mir nicht erklären, warum ich jetzt ein wenig verstimmt bin. Seit dem frühen Morgen bin ich voller Verständnis für jede Art von Armut. Zwei stinkende Männer kommen an mir vorüber, ich habe sofort Nachsicht mit ihnen. Es sind Wohnungslose, sie haben kein Bad und keine Empfindlichkeit mehr, man muß ihr Elend hinnehmen, wie man das Elend immer hingenommen hat. Es ist sehr schön, in der Gegend zu stehen und nicht sagen zu können, wem der Koffer gehört, auf den man aufpaßt. Am Rand des Zirkusgeländes führt eine junge Frau ein Pferd zur Seite und beginnt, es zu bürsten. Sie zieht die Bürste in klaren festen Linien über den Rücken des Tieres. Ihr Gesicht ist nahe am Fell. Das Tier hebt ein Bein und stößt mit dem Huf auf das Pflaster, wobei ein schönes Klirren entsteht. Fast gleichzeitig schiebt sich das Geschlecht des Tieres hervor. Schon bleiben in einiger Entfernung ein paar Zuschauer stehen. Es ist eine Weile nicht klar, was die Zuschauer von dem Pferd sehen wollen. Am Keifen zweier Männer kann ich dann doch erkennen, daß sie gar nichts sehen wollen, sondern etwas erwarten. Sie warten auf den Augenblick, in dem die Frau plötzlich das Geschlecht des Tieres entdeckt. Warum tritt sie nicht einen Schritt zurück und schaut wie zufällig unter den Leib des Tieres? Die Frau ahnt nicht, daß es ein paar Zuschauer gibt, die auf einen Zwischenfall des Sehens warten. Sie hält ihr Gesicht wie abwesend nahe am Rücken des Tieres. Jetzt! Ein kleiner Schritt zur Seite würde genügen, und der Zwischenfall wäre da.
    Da kommt die Frau zurück, deren Koffer ich bewache. In der linken Hand hält sie ein Rezept. Jetzt ist klar, sie war beim Arzt, wollte dort aber nicht mit einem Koffer erscheinen. Vermutlich ist sie keine Reisende, sondern eine Art Stadtwanderin, eine Unbehauste. Sie bedankt sich und nimmt ihren Koffer an sich. Ich möchte sie ermahnen, ihr Vertrauen nicht so leicht herzuschenken. Im gleichen Augenblick muß ich über meine Fürsorge lachen. Die Überraschung der Zuschauer wird ausbleiben. So langsam, wie es sich herausgeschoben hat, zieht sich das Geschlecht des Pferdes in seine samtene Umhüllung zurück. Durch das Umherschauen gerate ich in Abenteuer, die ich so nicht will, obgleich sie den Abenteuern ähneln, die ich oft vermisse. Ringsum legt sich die heimliche Erregung der Zuschauer. Einer der Männer geht auf einen bunten Kasten zu, auf dem in großer Schrift steht: HIER IHRE GEWINNKARTE EINWERFEN! Der Mann wirft einen kleinen Coupon in den Schlitz. Er schaut noch einmal zu dem Pferd zurück. Seine zu schnell erkaltete Erregung zwingt ihm ein Lachen ab. Zufällig sehe ich, daß die Pferdepflegerin mit dem Gesicht nahe an den Körper des Tieres herangeht. Es sieht aus, als würde sie am Fell riechen. Jetzt streckt sie beide Arme hoch und legt sie locker über den Rücken des Tieres. Etwa drei Sekunden lang senkt sie ihr Gesicht in die Flanke des Pferdes. Es hält still und schaut umher wie immer. Ich bin sicher, es ist eine besondere Freude, das Fell zu riechen. In diesen Augenblicken streift Gunhild über den Platz. Sie erkennt mich und kommt direkt auf mich zu. Das kann nur heißen, Gunhild hat in der Zwischenzeit nichts gesehen, nichts gehört und nichts gedacht. Genauso ist es auch. Ich laufe mal wieder mit der Idee herum, es müßte etwas Besonderes mit mir geschehen, sagt sie. Aber es geschieht nichts! Natürlich will ich gar nicht, daß etwas mit mir geschieht, aber ich stelle es mir immer wieder vor. Das ist meine persönliche Verrücktheit! Wieso persönlich? frage ich zurück. Weil meine Verrücktheit nicht öffentlich ist und weil ich sie beherrschen kann, sagt Gunhild. Allmählich beruhigt sie sich. Ich überlege, ob ich sie auf die
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