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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder
Autoren: Melissa Marr
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Prolog
    Maylene stützte sich mit einer Hand am Grabstein ab. Mit jedem Jahr fiel es ihr schwerer, vom Boden aufzustehen. Mit den Knien hatte sie schon länger Probleme, aber in letzter Zeit litt sie auch zunehmend unter Arthritis in den Hüften. Sie wischte sich die Erde von den Händen und vom Rock und zog ein Fläschchen aus der Tasche. Dann goss sie einige Tropfen des Inhalts auf die Erde und achtete sorgfältig darauf, dass die Tulpenzwiebeln, die sie gerade gesetzt hatte, nichts abbekamen.
    »Da, mein Lieber«, flüsterte sie. »Nicht der Schwarzgebrannte, den wir früher getrunken haben, aber etwas Besseres habe ich nicht zu bieten.«
    Sie strich über die Oberkante des Steins. Darauf hatte sich kein einziger Grashalm vom Rasenmähen angesammelt, und es hingen auch keine Spinnweben herab. Sie achtete auf die kleinsten Einzelheiten.
    »Weißt du noch? Die Veranda, Sonnenschein und Einmachgläser …« Sie hielt inne und erinnerte sich an die träumerische Stimmung von damals. »Und wie dumm wir waren … dachten, da draußen läge eine große Welt, die wir erobern könnten.«
    Peter würde wahrscheinlich keine Antwort geben – diejenigen, die richtig begraben und behütet wurden, sprachen nicht.
    Sie beendete ihre Runde über den Sweet-Rest-Friedhof. Immer wieder blieb sie stehen, um Schmutz von Grabsteinen zu wischen, ein wenig Schnaps auf den Boden zu gießen und ihre Worte zu sprechen. Sweet Rest war der letzte der Friedhöfe, der für diese Woche auf ihrem Programm stand, aber seine Bewohner sollten nicht zu kurz kommen.
    Für eine Kleinstadt besaß Claysville viele Friedhöfe. Das Gesetz verfügte, dass jeder, der innerhalb der Stadtgrenzen geboren worden war, auch hier begraben werden musste. In der Folge besaß die Stadt mehr tote als lebende Bewohner. Manchmal fragte sich Maylene, was geschehen würde, wenn die Lebenden von dem Vertrag erführen, den die Stadtgründer geschlossen hatten. Doch jedes Mal, wenn sie das Thema bei Charles anschnitt, erteilte er ihr eine Abfuhr. Manche Kämpfe konnte sie eben nicht gewinnen – ganz gleich, wie sehr sie sich das auch wünschte.
    Oder wie verdammt sinnvoll das wäre, dachte sie.
    Sie warf einen Blick zum Himmel hinauf. Es wurde dunkel, Zeit, nach Hause zurückzukehren. Sie erfüllte ihre Aufgabe so pflichtbewusst, dass seit fast einem Jahrzehnt keine Besucher mehr gekommen waren, aber trotzdem war es ihr lieber, bei Sonnenuntergang daheim zu sein. Lebenslange Gewohnheiten verflüchtigten sich auch dann nicht, wenn sie offenkundig überflüssig geworden waren.
    Aber vielleicht waren sie ja doch sinnvoll.
    Maylene hatte gerade das Fläschchen in die Tasche ihres Kleids gesteckt, als sie das Mädchen entdeckte. Sie war sehr dünn; unter dem verschlissenen T-Shirt wirkte ihr Bauch nach innen eingesunken. Ihre Füße waren nackt, und ihre Jeans waren an den Knien durchlöchert. Ein Schmutzfleck an der linken Wange sah wie schlecht aufgetragenes Rouge aus. Unter den Augen war Eyeliner verschmiert, als sei sie eingeschlafen, ohne sich abzuschminken. Das Mädchen ging über den gepflegten Friedhof, blieb aber nicht auf den Wegen, sondern überquerte den Rasen, bis es Maylene erreichte, die neben einem älteren Familienmausoleum stand.
    »Ich hatte dich nicht erwartet«, murmelte Maylene.
    Die Arme des Mädchens standen in einem seltsamen Winkel ab, nicht direkt angriffslustig, aber auch nicht entspannt, sondern eher so, als wisse sie nicht, wohin mit ihnen. »Ich habe Sie gesucht.«
    »Das konnte ich nicht wissen. Hätte ich …«
    »Darauf kommt es jetzt nicht mehr an.« Das Mädchen wandte sich unvermittelt an Maylene. »Hier sind Sie also.«
    »So ist es.« Maylene sammelte ihre Gartenschere und die Gießkanne ein. Sie war mit den Büschen fertig und hatte schon die meisten ihrer Gerätschaften auf einen Haufen gelegt. Die Flaschen klirrten, als sie die Gießkanne auf die Schubkarre warf.
    Das Mädchen wirkte traurig. Ihre Augen, dunkel wie schwarze Erde, schienen von Tränen umflort, die sie nicht hatte weinen können. »Ich habe Sie gesucht.«
    »Das konnte ich doch nicht ahnen.« Maylene streckte die Hand aus und zupfte ein Blatt aus dem Haar des Mädchens.
    »Egal.« Sie hob eine schmutzige Hand, auf deren Nägeln noch abgesplitterter roter Nagellack haftete, aber sie schien nicht zu wissen, was sie mit den ausgestreckten Fingern anfangen sollte. Auf ihrer Miene rangen die Ängste eines kleinen Mädchens mit teenagerhafter Coolness. Die Coolness siegte.
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