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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder
Autoren: Melissa Marr
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»Jetzt bin ich ja hier.«
    »Nun gut, dann komm!« Maylene betrat den Weg, der zu einem der Friedhofsausgänge führte. Sie zog den alten Schlüssel aus der Handtasche, drehte ihn im Schloss und schob das Tor auf. Es knarrte kaum vernehmbar. Ich sollte mit Liam darüber sprechen, rief sie sich ins Gedächtnis. Er vergisst so etwas immer, wenn man ihm nicht ständig zusetzt.
    »Haben Sie Pizza?« Die Stimme des Mädchens schwebte weich in der Luft. »Und Kakao? Ich mag diese Schokodrinks.«
    »Ich kann dir bestimmt etwas anbieten.« Maylene merkte, dass ihre Stimme bebte. Sie wurde zu alt für Überraschungen. Und es war mehr als überraschend, das Mädchen hier anzutreffen – in diesem Zustand. Ihre Eltern hätten sie nicht frei herumlaufen lassen dürfen. Jemand hätte Kontakt zu Maylene aufnehmen sollen, bevor es so weit kam. Es gab schließlich Gesetze in Claysville.
    Gesetze, die genau aus diesem Grund existierten.
    Durch das Tor betraten sie den Gehweg. Die Welt jenseits von Sweet Rest war nicht annähernd so ordentlich wie innerhalb des Friedhofs. Auf dem Gehweg klafften Risse, aus denen dürres Unkraut hervorspross.
    »Trittst du auf einen Spalt, wird deine Mutter nicht alt«, flüsterte das Mädchen, stampfte mit dem nackten Fuß auf den gerissenen Zement und lächelte Maylene an. »Je breiter der Spalt, umso mehr schmerzt es sie«, fuhr sie fort.
    »Das reimt sich aber nicht«, argumentierte Maylene.
    »Nein, nicht wahr?« Kurz neigte das Mädchen den Kopf zur Seite. »Je breiter der Riss, umso tiefer der Biss. Das hört sich gut an.«
    Beim Gehen schwang sie leicht mit den Armen. Sie bewegten sich nicht im Takt zu ihren Schritten, nicht im üblichen Rhythmus. Ihre Schritte waren stetig, aber ihr Muster sprunghaft. Ihre Füße trafen so heftig auf den Gehweg, dass ihr der aufgebrochene Zement in die nackten Füße schnitt.
    Schweigend schob Maylene die Schubkarre den Gehweg entlang, bis sie ihre Einfahrt erreichten. Dort blieb sie stehen, zog mit einer Hand die Flasche aus der Tasche und leerte sie. Mit der anderen griff sie in den Briefkasten. Im hinteren Teil befand sich ein zusammengefalteter, frankierter und adressierter Briefumschlag. Maylenes Finger zitterten, doch sie steckte das Fläschchen in den Umschlag, klebte ihn zu, legte ihn wieder in den Kasten und stellte das rote Fähnchen hoch, damit der Briefträger wusste, dass er das Päckchen mitnehmen sollte. Wenn sie morgen früh nicht kam, um es zu holen, würde es an Rebekkah gehen. Für einen Augenblick legte Maylene die Hand an den zerbeulten Kasten und bedauerte, nicht den Mut gehabt zu haben, Rebekkah früher zu sagen, was sie wissen musste.
    »Ich habe Hunger, Miss Maylene«, drängte das Mädchen.
    »Tut mir leid«, flüsterte Maylene. »Ich mache dir etwas Warmes zu essen. Lass mich …«
    »Ist schon in Ordnung. Sie werden mich retten, Miss Maylene.« Das Mädchen warf ihr einen aufrichtig erleichterten Blick zu. »Ich wusste es. Ich wusste, dass alles in Ordnung kommt, wenn ich Sie finde.«

1. Kapitel
    Byron Montgomery hatte das Haus der Barrows seit Jahren nicht mehr betreten. Früher einmal war er jeden Tag dorthin gegangen, um seine Highschool-Freundin Ella und deren Stiefschwester Rebekkah zu treffen. Inzwischen waren beide seit fast einem Jahrzehnt fort, und zum ersten Mal war er dankbar dafür. Ellas und Rebekkahs Großmutter lag in einer halb geronnenen Blutlache auf dem Küchenboden. Ihr Kopf war in einem eigenartigen Winkel verdreht, und ihr Arm war zerfetzt. Das Blut auf dem Boden war vermutlich größtenteils aus dieser einen Wunde geflossen. Auf dem Oberarm schien ein Handabdruck hinterlassen worden zu sein, aber bei dem vielen Blut ließ sich das nicht eindeutig feststellen.
    »Bist du okay?« Chris trat vor, bis er Maylenes Leiche nicht mehr sah. Für einen Mann war der Sheriff nicht besonders groß, aber wie alle McInneys strahlte er eine Autorität aus, die in jeder Umgebung die Aufmerksamkeit auf sich zog. Hatte Chris früher bei handfesten Kneipenschlägereien einen beeindruckenden Anblick abgegeben, machten ihn seine Haltung und seine Muskeln heutzutage als Sheriff zu einer Vertrauen einflößenden Erscheinung.
    »Was?« Byron zwang sich, nur Chris anzusehen, und vermied den Blick auf Maylenes Körper.
    »Wird dir schlecht … wegen des …« Chris wies auf den Boden. »… wegen des Bluts oder so?«
    »Nein.« Byron schüttelte den Kopf. Ein Bestatter konnte es sich nicht leisten, beim Anblick – oder dem
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