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Beautiful Americans 03 - Leben á la carte

Beautiful Americans 03 - Leben á la carte

Titel: Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
Autoren: Lucy Silag
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1 • PJ
    Ich wünschte, du wärst hier
    »Schau dir mal den Mantel hier an! Genau wie der von Catherine Deneuve«, ruft meine Schwester Annabel aufgeregt aus einer Ecke des Second-Hand-Ladens, in den sie mich gerade hineingezogen hat. Ich blicke über einen Ständer mit Vintage-Button-Down-Hemden hinweg und sehe, wie sie sich bewundernd vor einem gesprungenen Spiegel dreht. Sie trägt einen knielangen Trenchcoat mit breitem Kragen und flachen, großen braunen Knöpfen. Er ist nicht ganz so künstlerisch-ausgeflippt wie das, was Annabel sonst trägt, und auch nicht ganz so feminin.
    Schulterzuckend wende ich mich ab und werfe einen Blick zur Tür, um zu kontrollieren, ob jemand den Laden betreten hat, seit ich das letzte Mal hingesehen habe. »Ja, cool. Bist du dann so weit? Ich denke, wir sollten langsam wieder ins Hostel zurück.« In Wirklichkeit finde ich, wir hätten diesen Laden gar nicht erst betreten sollen. Falls uns jemand gefolgt ist, sitzen wir jetzt nämlich in der Falle.
    »Ich werde ihn kaufen. Du solltest dir auch was aussuchen, Penny Lane. Irgendwas«, trällert sie, »für unser neues Leben.«
    Ich wünschte, Annabel würde leiser reden, auch wenn sich außer uns nur noch eine ältere französische Dame in dem Laden befindet, die hinter einer drei Tage alten Zeitung abgetaucht ist.
    »Los, PJ, jetzt such dir auch was aus«, drängt mich Annabel. »Wie wäre es zum Beispiel damit?«
    Sie hält mir ein schulterfreies goldenes Kleid hin. Sofort muss ich an ein ganz ähnliches Kleid denken, das ich mal kurz, nur für ein paar Minuten, anhatte. Meine Pariser Gastmutter, Mme Marquet, hatte mich dazu gedrängt, es anzuprobieren, aber als sie sah, wie gut es mir stand, musste ich es sofort wieder ausziehen. Ich habe mich damals ziemlich mies gefühlt.
    »Nein, Annabel«, sage ich und gehe wieder nach vorne zum Schaufenster. Draußen liegt eine dünne Schicht Schnee auf den Markisen und Autodächern in dem ansonsten matschigen Sträßchen. Cherbourg. Falls diese Stadt Annabels Erwartungen nicht gerecht wird, so lässt sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie behauptet, es sei perfekt hier. Perfekt für unser neues Leben. Auf mich wirkt die Stadt so nichtssagend und unattraktiv wie Rouen - mit der Schönheit von Paris kann einfach kein Ort mithalten.
    »Wir haben sowieso kein Geld für neue Klamotten. Schließlich ist schon eine Menge von unserem Ersparten für die Rucksäcke draufgegangen. Komm, lass uns gehen.« Ich laufe wieder zu Annabel hinüber. Aber sie hat mich gar nicht gehört. Sie reicht der älteren Frau hinter der Ladentheke gerade kostbare Euro-Scheine und trottet dann hinter mir her, glücklich über ihren neuen Mantel.
    * * *
    Unser »Zuhause« in Cherbourg ist ein altes regenklammes Hostel unweit des Hafens. Jetzt in der Nebensaison ist es dummerweise wie ausgestorben. Inmitten anderer Menschen würden wir nicht so auffallen, aber bisher hält sich hier außer uns nur noch das Mädchen an der Rezeption auf.
    Annabel hat sich Cherbourg ausgesucht, nicht ich.
    ***
    Als wir unsere Rucksäcke an einer Brücke, die vom Außenbezirk von Rouen zur L'ile Lacroix führt, wegwarfen, sah Annabel verstört aus.
    »Und ich darf wirklich gar nichts mitnehmen?«
    »Nein.« Meine Stimme klang fest und ruhig. »Komm.«
    Wir eilten zum Bahnhof. Ich wollte möglichst schnell weg aus der Stadt, noch ehe die Rucksäcke gefunden würden. Noch ehe jemand einen Aushang machte. Noch ehe jemand die Polizei verständigte.
    »Im Zug darfst du niemandem auch nur das kleinste bisschen von uns erzählen. Am besten weichst du einfach allen Fragen aus«, sagte ich zu Annabel, als sie gerade den Fahrplan im Bahnhof studierte, auf der Suche nach dem nächsten Ort, den wir vorübergehend unser Zuhause nennen würden.
    »Das letzte Mal, als ich einem Fremden im Zug etwas aus meinem Leben erzählt habe, ist er bewusstlos auf dem Küchenboden gelandet«, flüsterte ich, um meinen Standpunkt zu untermauern. Allein diese Worte auszusprechen, ließ mich schon erschaudern. Wieder sah ich vor mir, wie sich der Ausdruck auf Denis' Gesicht verändert hatte, als ihm, kurz bevor er auf dem Boden aufschlug, klar wurde, was ich getan hatte. Der drohende Blick in seinen Augen wich einem ängstlichen, und mir wurde klar, dass er jünger war, als ich ursprünglich angenommen hatte. Die Mütze, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, verbarg ein unschuldiges, jugendliches Gesicht. Es handelte sich um einen jungen Verwandten des Mannes,
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