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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder
Autoren: Melissa Marr
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du?«
    Der gefleckte Kater, der auf dem Fensterbrett saß, zuckte mit dem Schwanz.
    Es klingelte an der Haustür, und Rebekkah warf einen Blick auf die Straße. Der Postbote war schon wieder auf dem Rückweg zu seinem Wagen.
    »Gelegentlich wäre es ganz nett, wenn Lieferungen tatsächlich ausgeliefert würden, statt einfach hingestellt zu werden, damit jemand drauftritt, sie nass regnen oder gestohlen werden«, brummte Rebekkah, während sie die zwei Treppen ins Foyer hinunterstieg.
    Auf der Stufe vor der Eingangstür lag ein in Maylenes krakeliger Handschrift adressierter brauner Umschlag. Rebekkah hob ihn auf – und ließ ihn fast wieder fallen, als sie ertastete, was sich darin befand.
    »Nein.« Sie riss das Päckchen auf. Der obere Teil des Umschlags flatterte zu Boden und landete neben einer Paradiesvogelblume an der Tür. In dem dicken Umschlag lag das Silberfläschchen ihrer Großmutter Maylene. Es war in ein mit zarter Occhispitze gesäumtes weißes Taschentuch gehüllt.
    »Nein«, sagte sie noch einmal.
    Rebekkah stolperte die Treppen hinauf, stieß die Wohnungstür auf, griff nach ihrem Handy und rief ihre Großmutter an.
    »Wo bist du?«, flüsterte Rebekkah, als es am anderen Ende schier endlos läutete. »Geh ans Telefon! Komm schon, komm schon! Nimm ab!«
    Immer wieder wählte sie Maylenes beide Nummern, doch weder am Haustelefon noch am Handy – Rebekkah hatte darauf bestanden, dass ihre Großmutter immer eins bei sich trug – meldete sich jemand.
    Rebekkah umklammerte das Fläschchen. Seit sie zurückdenken konnte, hatte ihre Großmutter es nie aus der Hand gegeben. Wenn Maylene aus dem Haus ging, trug sie es in ihrer Handtasche. Im Garten steckte es in einer ihrer tiefen Schürzentaschen. Zu Hause stand es auf der Küchentheke oder dem Nachttisch. Und bei jedem Begräbnis, das Rebekkah zusammen mit ihrer Großmutter besucht hatte, war das Fläschchen dabei gewesen.
    Rebekkah trat in den abgedunkelten Raum. Sie hatte gewusst, dass Ella dort aufgebahrt lag, doch offiziell begann die Totenwache erst in einer Stunde. So behutsam wie möglich zog sie die Tür zu und versuchte leise zu sein. Sie ging ans andere Ende des Zimmers. Tränen rannen ihr über die Wangen und tropften ihr aufs Kleid.
    »Es ist in Ordnung, wenn du weinst, Beks.«
    Rebekkah sah sich in dem dunklen Raum um. Ihr Blick huschte über Stühle und Blumengebinde, bis sie ihre Großmutter in einem großen Sessel auf der anderen Zimmerseite sitzen sah. »Maylene … Ich hatte nicht … Ich dachte, ich sei allein mit …« Sie warf Ella einen Blick zu. »… mit … Ich dachte, sie sei die Einzige hier.«
    »Sie ist überhaupt nicht hier.« Weder wandte Maylene Rebekkah ihre Aufmerksamkeit zu, noch erhob sie sich aus dem Sessel. Sie blieb im Schatten und sah Ella an, ihre Blutsverwandte.
    »Sie hätte es nicht tun sollen«, sagte Rebekkah. In diesem Moment stieg so etwas wie Hass in ihr auf. Sie konnte es niemandem sagen, aber es war so. Nach Ellas Selbstmord waren alle in Tränen aufgelöst, nichts war mehr in Ordnung. Rebekkahs Mutter Julia war hysterisch geworden – hatte Rebekkahs Zimmer nach Drogen durchsucht, ihr Tagebuch gelesen, sie viel zu fest umarmt. Ihr Stiefvater Jimmy hatte an dem Tag, als man Ella gefunden hatte, zu trinken begonnen und – soweit Rebekkah das beurteilen konnte – bisher nicht wieder aufgehört.
    Maylenes Stimme war ein Flüstern in der Dunkelheit. »Komm her!«
    Rebekkah ging zu ihr und ließ sich von Maylene in eine rosenduftende Umarmung ziehen. Maylene streichelte ihr Haar und flüsterte sanfte Worte in einer Sprache, die Rebekkah nicht verstand. Rebekkah vergoss alle Tränen, die sie zurückgehalten hatte.
    Als sie zu weinen aufhörte, öffnete Maylene ihre riesige Handtasche und zog ein silbernes Fläschchen hervor. Es war mit Rosen und Blattranken graviert, die sich zu Initialen verschlangen. A.B.
    »Bittere Medizin.« Maylene setzte es an und trank einen Schluck. Dann hielt sie Rebekkah das Fläschchen hin.
    Rebekkah nahm es mit zittriger Hand, die feucht von Schleim und Tränen war. Sie nahm einen kleinen Schluck und hustete, als sich ein brennendes Gefühl vom Hals bis in den Magen ausbreitete.
    »Wir sind nicht blutsverwandt, aber du gehörst zu mir – so wie sie.« Maylene stand auf und nahm das Fläschchen wieder an sich. »Und jetzt erst recht.«
    Sie hielt das kleine Behältnis hoch, als wolle sie einen Toast ausbringen. »Von meinen Lippen an deine Ohren, du alter Mistkerl.«
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