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Das Musterbuch (German Edition)

Das Musterbuch (German Edition)

Titel: Das Musterbuch (German Edition)
Autoren: Sandra Mantovana
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Teil 1: Beginn und Auseinandersetzung
Kapitel I
21. Mai anno 1474
     
     
Der Landschaftsgürtel vor der Stadtgrenze von Pesaro war steinig. Andrea war schon seit einigen Tagesritten dorthin unterwegs, wo das Altarwerk des Konkurrenten Giovanni Bellini eine ganze Stadt in Staunen versetzt habe sollte. Er musste sich unbedingt ein eigenes Bild von der oft gerühmten Genialität des Venezianers machen. Was konnte schon Bedeutendes entstanden sein, ohne die Blätter aus Pergament und Bütten, die er in der Satteltasche bei sich trug?
Was hatte Nicolosia ihm noch zugerufen: „ denk’ daran, mein Liebster, mein Bruder Giovanni ist in den letzten Jahren einen anderen Weg in der Kunst gegangen als du! Sieh das Altarwerk von Pesaro nicht als Wettstreit-Bild an, sondern versuche, Giovanni zu begreifen !“ Wollte Nicolosia sich auf die Seite ihres Bruders stellen? Er musste hinter das Geheimnis des Venezianers kommen, egal was seine Frau auch dachte!
In der Ferne tauchten die Kirchtürme der südlichen Stadt ausserhalb der Republik Venedigs auf. Verschwommen erkannte Andrea die Franziskanerkirche. Am Stadttor von Pesaro standen drei ältere Männer, einer davon in ausgetragenen hellblauem Wams und verblichenem gelben Barett. Andrea war ein aufmerksamer Beobachter und sah in allem und jedem ein Motiv für seine Bilder.
Er erkundigte sich bei den Stadtwächtern sofort nach dem kürzesten Weg zur Franziskanerkirche und beschloss, umgehend dorthin zu reiten. Nach wenigen hundert Metern stand er vor dem Kirchenportal, Pferd und Gepäck bei den Mönchen zur Verwahrung gebracht, und nur noch wenige Stufen vom angeblichen Meisterwerk getrennt; bald würde er es sehen können...
Der Kirchenraum war dunkel; das frühe Abendlicht liess kaum eine Orientierung zu. Er bewegte sich vorbei an den Kirchenbänken zum Chor, dorthin, wo er das Werk vermutete. Es roch nach altem Wachs abgebrannter Kerzen, nach dem Duft von Weihrauch.
Die Franziskaner konnten sich ihrer Protektion durch die Sforza, die Herren von Pesaro, gewiss sein. Daher erklärte sich die Wahl der Heiligen im Bild: so der Heilige Georg, einer beim Adel angesehener Ritter, und Terentius der Stadtheilige von Pesaro und zugleich Verkörperung der Macht der Sforzas. Das Modell der Festung in der Hand des Terentius sollte wohl die 'Fortezza Costanza' darstellen, die Burg für Costanzo Sforza. Dies waren aber nur zwei der vier Heiligenfiguren auf jedem der zwei Pilaster des Rahmens, in dessen Mitte Andrea das Hauptbild mit der Krönung Mariens beeindruckte, ein Bild von Demut und Sanftheit, voller Würde und Poesie!
Mit welch unglaublichen Mitteln hatte der venezianische Maler die Farben zum Leuchten gebracht und mit was für einer Tiefe! Alles öffnete sich hier! Der Rahmen, der Raum, der Thron und die Landschaft. Einzigartig war die subtile Verwendung des Kolorits, das sich in Blau-Rot-Braun-Tönen bis ins kleinste Detail im warmen Licht aufzulösen schien.
Die vier Heiligen um die Krönungsszene herum markierten Ruhe und Reflexion, Hingabe und Harmonie. Die Krone über dem Haupt der Mutter Gottes nahm mit ihrer sanften Neigung die kleinste Abweichung vom ausgewogenen Architekturrahmen auf, ähnlich dem Vorbild Paolo Venezianos von 1324. Und dann oben, als Abschluss des Altarretabels, die Pietà, mit dem seitlich gehaltenen Christus-Körper. In seiner Asymmetrie war das Werk geradezu eine Revolution der konventionellen Ikonenform, dabei so zart in den Gesten. Fast war das leise Gebet der Magdalena zu vernehmen.
Andrea trat näher heran, um die Predellenbilder, den untersten Teil des Altars, zu betrachten. Hier schnaufte ein Pferd mit einem jünglingshaften Reiter bemannt, der sich seines Sieges sicher sein durfte, und noch einmal Terentius, mit Siegesfahne und dem Festungsmodell in den Händen, in galanter Beinhaltung und in rosarotem Harnisch, der seinen athletischen Körper deutlich zur Geltung brachte. Ebenso waren die beiden Heiligen Paulus und Hieronymus im Wechsel von Drama zu Askese vortrefflich eingefangen. Was war Giovanni Bellini doch für ein Lyriker!
Seine Frau Nicolosia nannte ihren Bruder liebevoll Giambellino , den zarten Gianni, denn jener war so ganz anders als sein älterer Bruder Gentile, der fast noch gotisch strenge Architekturbilder ganz im Sinne des Vaters mit höfischer Eleganz kombinierte.
Giambellino hatte bereits mit seinem Auftrag zum Polyptychon für Santi Giovanni e Paolo seine Generalprobe für öffentliche Aufträge bestanden: mit dem überaus
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