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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Autoren: Lauren Oliver
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PROLOG
    Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie, aber bei mir war es nicht so.
    Um ehrlich zu sein, fand ich schon immer, dass diese ganze Sache mit dem letzten Augenblick und dem gedanklichen Schnelldurchlauf durchs Leben ziemlich furchtbar klang. Manche Dinge bleiben besser begraben und vergessen, wie meine Mutter sagen würde. Ich zum Beispiel würde liebend gerne die komplette fünfte Klasse vergessen (die Brillen- und Rosa-Zahnspangen-Phase), und will wirklich jemand den ersten Tag auf der weiterführenden Schule noch mal durchleben? Dazu kommen all die langweiligen Familienurlaube, sinnlosen Mathestunden, Regelschmerzen und miesen Küsse, die ich schon beim ersten Mal kaum ertragen habe …
    Ich muss allerdings zugeben, dass es mir nichts ausgemacht hätte, meine strahlendsten Sternstunden noch mal zu erleben: Als Rob Cokran und ich beim Jahresball zum ersten Mal geknutscht haben – mitten auf der Tanzfläche, wo es alle sehen konnten und so wussten, dass wir miteinander gingen; als Lindsay, Elody, Ally und ich betrunken waren und versuchten, im Mai Schneeengel zu machen, und lebensgroße Abdrücke auf dem Rasen vor Allys Haus hinterließen; die Party zu meinem sechzehnten Geburtstag, als wir hundert Teelichter aufgestellt und auf dem Gartentisch getanzt haben; Halloween, als Lindsay und ich Clara Seuse einen Streich gespielt haben, von der Polizei verfolgt wurden und so lachenmussten, dass wir uns beinahe übergeben hätten. Die Dinge, die ich in Erinnerung behalten wollte; die Dinge, deretwegen ich in Erinnerung bleiben wollte.
    Aber bevor ich starb, dachte ich nicht an Rob oder irgendeinen anderen Jungen. Ich dachte nicht an all die verrückten Sachen, die ich mit meinen Freundinnen gemacht hatte. Ich dachte auch nicht an meine Familie oder daran, wie die Morgensonne die Wände in meinem Zimmer cremefarben tönt, oder daran, wie die Azaleen vor meinem Fenster im Juli riechen, nach einer Mischung aus Honig und Zimt.
    Stattdessen dachte ich an Vicky Hallinan.
    Genauer gesagt dachte ich daran, wie Lindsay in der vierten Klasse einmal in Sport vor allen Leuten verkündete, sie wolle Vicky nicht in ihrer Völkerballmannschaft haben. »Sie ist zu fett«, platzte Lindsay heraus. »Die trifft man ja mit geschlossenen Augen.« Ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Lindsay befreundet, aber schon damals hatte sie die Fähigkeit, Dinge so zu sagen, dass sie urkomisch klangen, und ich lachte zusammen mit allen anderen, während Vickys Gesicht so dunkellila anlief wie die Unterseite einer Gewitterwolke.
    Das war es, was mir im Augenblick vor meinem Tod einfiel, als ich eigentlich irgendeine große Offenbarung aus meiner Vergangenheit hätte haben sollen: der Geruch nach Lack und das Quietschen unserer Turnschuhe auf dem polierten Boden; wie eng meine Polyester-Shorts saßen; das Gelächter, das durch den großen, kahlen Raum hallte, als wären viel mehr als fünfundzwanzig Leute in der Sporthalle.
    Und Vickys Gesicht.
    Das Komische ist, dass ich schon ewig nicht mehr daran gedacht hatte. Es war eine dieser Erinnerungen, von der mir nicht einmal bewusst war, dass ich sie hatte, wenn ihr wisst, was ich meine. Vicky war deswegen auch nicht traumatisiert oder so. Es war einfach das, was Kinder sich gegenseitig antun. Keine große Sache. Es wird immer jemand geben, der lacht, und jemand, über den gelacht wird. Das kommt jeden Tag vor, in jeder Stadt in Amerika – wahrscheinlich auf der ganzen Welt, soweit ich weiß. Beim Erwachsenwerden geht es einfach darum zu lernen, auf der Seite der Lacher zu bleiben.
    Vicky war gar nicht mal besonders dick, sie hatte nur ein bisschen Babyspeck im Gesicht und am Bauch – und noch vor der Highschool hatte sie den verloren und war sieben Zentimeter gewachsen. Sie freundete sich sogar mit Lindsay an. Sie spielten zusammen Hockey und sagten Hallo, wenn sie sich auf dem Gang begegneten. Einmal in der neunten Klasse brachte Vicky die Sache auf einer Party zur Sprache – wir waren alle ziemlich angeschickert – und wir lachten und lachten, Vicky am meisten von allen, bis ihr Gesicht fast genau so lila wurde wie vor Jahren in der Sporthalle.
    Das war das eine, was komisch war.
    Noch komischer war es, dass wir gerade genau darüber geredet hatten – wie das sein würde, kurz bevor man starb, meine ich. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf
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