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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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starrten es an.
    Es war der Ring. Der goldene Ring, dessen Nachtspatstein jetzt fehlte. Flint hob ihn auf und ließ mich los. Etwas in seinem Gesicht veränderte sich, als er den Ring betrachtete.
    »Woher hast du den?«, fragte er außer Atem.
    »Aus dem Wilden Wasser«, antwortete ich, »dort, wo die Stromschnellen sind.«
    »Ich hätte nie gedacht, dass er noch einmal auftaucht«, sagte er. »Damals, als ich ihn in den Fluss geworfen habe.«
    »Es ist … ein Ehering, Flint.«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es wäre einer geworden. Wenn es das Grab im Wald nicht gäbe. Auf dem Grabstein stehen die gleichen Buchstaben.«
    »I & D«, ergänzte ich. »Zwei Namen.«
    »Nein«, antwortete Flint. »Namen bedeuten nichts. Es heißt Ich und Du. Ganz einfach.« Er drehte den goldenen Ring zwischen den Fingern. »Manchmal frage ich mich«, fügte er leise hinzu, »welcher Teil von mir unter dem Stein begraben liegt. Ein Ich oder ein Du.«
    »Flint«, flüsterte ich, »es kann nicht wirklich ein Teil von dir dort liegen. Sag mir einmal die Wahrheit!« Ich schluckte. »Hast du vor langer Zeit … jemanden …?«
    Ich konnte das Wort »umgebracht« nicht aussprechen. Es war zu schrecklich. Aber Flint wusste, was ich meinte. Er stand auf und blickte zu mir herab. Ich wollte ebenfalls aufstehen, aber als er mich so ansah, bekam ich plötzlich Angst vor ihm.
    »Nein«, sagte er endlich. Seine Stimme war schroff wie die Felsen in der Todesschlucht. Und dann drehte er sich um und durchquerte das kleine Arbeitszimmer mit zwei Schritten. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hörte ich, wie draußen ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
    Da endlich fand ich die Kraft, aufzustehen. Ich rannte zur Tür und hämmerte dagegen. »Flint! Flint, was soll das? Wohin willst du?«
    »Ich reiße die Finsterbachbrücke ein«, antwortete Flint. »Mit meinen eigenen Händen. Und wenn ich zurückkomme, sprechen wir nie wieder über die Schwarze Stadt oder über das Grab im Wald.«

Ein letztes Stück seines Herzens
    L ange, lange stand ich mitten in Flints Arbeitszimmer und wusste nicht, was ich tun sollte. Die Zeiger der Wanduhr bewegten sich langsam, aber stetig weiter. Es war zehn Minuten nach zwölf. Um Viertel vor eins musste ich vor dem Gericht sein. Ich hatte es Joern versprochen. Noch konnte ich es schaffen, wenn ich mich beeilte. Wenn ich auf Westwind zur Mauer ritt. Doch ich war gefangen. Eingeschlossen in einem Turm. Wenn das nicht Stoff für ein Märchen war!
    »Flint!«, schrie ich. »Du bist …« Doch mir fiel kein treffendes Wort ein. Ein Starrkopf, hatte Almut gesagt. Aber dieses Wort war viel zu harmlos.
    Ich ging zurück zum Fenster und blickte hinunter. Und zum ersten Mal merkte ich, dass die Scheiben nicht aus buntem Glas bestanden. Sie bestanden aus Nachtspat. Dem Stein, der alles schön machte, wenn man hindurchsah. Sodass man sich nicht darum kümmern musste, das Hässliche zu ändern.
    Mir war danach, die Scheiben zu zerschlagen. Da sah ich, dass unten auf dem Hof jemand stand und ich öffnete das Fenster. Flint hatte vergessen, es zu verriegeln.
    »Frentje!«, schrie ich. »Er hat mich eingeschlossen! Hast du den Schlüssel zum Arbeitszimmer?«
    Doch Frentje schüttelte den Kopf. Sie legte ihre Hände an den Mund und rief: »Nimm die Feuerleiter!«
    Nimm die Feuerleiter. Frentje hatte gut reden. Ihre Tochter wäre wie ein Wiesel über diese Leiter nach unten geklettert. Aber Almut hatte auch keine Höhenangst.
    Ich sah auf die Uhr. Zwanzig nach zwölf.
    Die Feuerleiter war meine einzige Chance.
    Um auf die Leiter zu kommen, musste ich aus dem Fenster steigen und mich umdrehen, und das alles in schwindelerregender Höhe. Unten wartete der harte Boden des Hofes auf mich.
    In der Schwarzen Stadt wartete mein Freund.
    Ich stieg aus dem Fenster, hielt mich am Fensterbrett fest und versuchte, nicht an die Höhe zu denken. Stattdessen dachte ich an Joern und an Mama und an Onnar. Ganz, ganz langsam drehte ich mich auf der winzigen metallenen Plattform um. Dann begann ich die Leiter hinunterzuklettern, Stufe um Stufe. Die Sonne war fort und ein kalter Wind wehte mir um die Ohren, beinahe so kalt wie der Wind in der Schwarzen Stadt.
    Einmal sah ich nach oben. Am Himmel wurde es dunkel und ungemütlich. Dicke Wolken versammelten sich dort, als kämen auch sie, um zu sehen, was geschehen würde. Wenn sie es geschafft haben, den ganzen Himmel zu bedecken, dachte ich, dann ist die Zeit abgelaufen. Dann
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