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Bin ich hier der Depp

Bin ich hier der Depp

Titel: Bin ich hier der Depp
Autoren: Martin Wehrle
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In diesem Kapitel erfahren Sie unter anderem …
warum immer mehr Firmen sich als Paradies ausgeben, aber die Hölle sind,
wie das Märchen der Globalisierung benutzt wird, um Mitarbeiter zu verheizen,
wie ein Chef einen Nordkap-Urlauber aufspürte und zurück in die Firma beorderte
und wodurch Helmut Kohl zum Vorbild einer irren Arbeitssekte wurde.
    Das höllische Arbeitsparadies
    Eine süße Melodie erklingt aus den deutschen Firmen, eine Melodie wie die des Rattenfängers von Hameln. Die Firmen flöten von einer modernen Arbeitswelt, in der jeder Mitarbeiter sein eigener Herr ist. Die große Freiheit soll an den Arbeitsplätzen ausgebrochen, die Selbstbestimmung eingekehrt, das Zeitalter der Schufterei beendet sein. Stellenausschreibungen, Broschüren und Vorstandsreden verheißen dem Mitarbeiter hinterm Firmentor ein gelobtes Arbeitsland, ein Paradies.
    Die Hierarchien? Flach wie das Wattenmeer! Die Stechuhren? Auf dem Weg ins Museum! Der Chef? Dein Freund und Helfer! So manches Firmengebäude verwandelt sich zur Sofa-Landschaft, die Tischtennisplatte im Konferenzraum lädt ein zum Rundlauf, und wer aus der Obstschale auf dem Flur einen Apfel greift, darf das auf Kosten der Firma tun, statt dafür aus dem Paradies vertrieben zu werden; die Firmen-Götter sind gnädig.
    Kein Telefonkabel, lieber Mitarbeiter, kettet Sie mehr an Ihren Schreibtisch, Sie sind frei wie der Wind. Ihre Arbeit ist geschrumpft auf Taschenformat, sie lässt sich bequem per Handy tragen. Und, bitte sehr: Picken Sie sich aus dem Arbeitsmodell-Baukasten einen Arbeitsort Ihrer Wahl, ob Heimbüro oder Südseestrand. Teilen Sie Ihren Job (Job-Sharing) oder schlafen Sie morgens bis 10 Uhr aus (flexible Arbeitszeit) – völlig in Ordnung! Kein Chef sitzt Ihnen mehr im Nacken, Sie verantworten Ihre Ergebnisse selbst.
    Die Arbeitswelt ein Paradies und der Mitarbeiter ein dankbarer Bewohner: So hätten sie es gern, die Rattenfänger!
    Doch wer der süßen Melodie hinters Firmentor folgt, stolpert in eine Arbeitshölle, wie sie die Welt seit dem Frühkapitalismus nicht mehr gesehen hat. Die Firmen flöten: »Du bist selbst für deinen Erfolg verantwortlich«, gemeint ist: »Der Misserfolg kostet dich den Kopf!« Die Firmen flöten: »Du kannst deine Arbeit frei einteilen«, gemeint ist: »Mach bloß nicht Feierabend, bevor alles fertig ist.« Die Firmen flöten: »Du kannst alles bei uns erreichen«, gemeint ist: »Wenn du auf der Strecke bleibst, liegt es nur an dir!«
    Hinterm Firmentor wohnt das Elend. Mitarbeiter ächzen unter Arbeitslasten. Sie schuften, bis der Arzt kommt, und der Arzt kommt oft: Die Burn-out-Kliniken quellen über, sie sind zu den Seelen-Kläranlagen einer zum Himmel stinkenden Arbeitswelt geworden. Zwischen 2005 und 2011 haben sich die Krankheitstage wegen Burn-out verelffacht, auf 2,7 Millionen. [5] Berufsleben statt Leben, Überstunden statt Feierabend, Dauerstress statt Entspannung: Millionen Mitarbeiter strampeln in diesem Hamsterrad. Das Hobby ist nur noch Erinnerung, die beste Freundin eine Adresse im Notizbuch und die Ehe womöglich ein Fall für den Scheidungsanwalt.
    Frei ist sie tatsächlich, die moderne Arbeitswelt, aber nur frei von Berechenbarkeit: Wer jahrzehntelang beste Arbeit leistet, kann über Nacht für die Rendite rausgekegelt werden; frei von Gerechtigkeit ist sie: Die Reallöhne der Mitarbeiter sind zwischen 2000 und 2012 um 1,8 Prozent gesunken [6] , während die Unternehmensgewinne durch die Decke schießen [7] ; und frei ist sie von einer Abgrenzung zum Privatleben: Der Feierabend ist kein Schlusspfiff mehr, nur noch Auftakt zur Verlängerung; Mitarbeiter stehen rund um die Uhr zur Verfügung, Freizeit verkommt zur Rufbereitschaft.
    Gesunde Menschen gehen rein in die Firmen, und kranke kommen raus. Die Fließbänder der schönen neuen Arbeitswelt produzieren Volksleiden wie Bluthochdruck, ADHS und Burn-out. Allein 2011 musste die AOK für die Behandlung psychischer Erkrankungen 9,5 Milliarden Euro in die Hand nehmen, eine Milliarde mehr als im Vorjahr. [8]
    Der Mitarbeiter ist Gehetzter und Verletzter, Sklave und Einpeitscher zugleich. Beschossen mit Mails, bombardiert mit Projekten, behelligt von Anrufen, überfordert von Zielen – so rotiert er um die eigene Achse.
    Das Drehbuch der seelischen Überforderung wird von Managern geschrieben: Wie sollen Mitarbeiter die Qualität ihrer Arbeit erhöhen, wenn zugleich immer weniger Zeit dafür bleibt? Wie sollen sie größere Arbeitsmengen bewältigen,
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