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Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
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Flint. Er trat hinter einer überhängenden Efeuranke hervor wie hinter einem grünen Wandteppich und ich erschrak so sehr, dass ich beinahe am Rande der Schlucht das Gleichgewicht verloren hätte. Doch Flint legte die Arme um mich und hielt mich fest.
    »Bleib hier, Lasse«, sagte er. Und ich dachte: Wo sollte ich denn hingehen? Unsere Brücke war nicht mehr da. Nurnoch ein letzter dünner Baumstamm spannte sich über die tiefe Schlucht wie das Seil eines Seiltänzers.
    Die Wolken hatten inzwischen den ganzen Himmel überzogen und der Regen prasselte in dicken Tropfen auf den Finsterbach hinab. Es hätte ein schöner Regen sein können, ein Sommerregen, in dem man nackt durch den Hof rennt und sich mit Schlamm bespritzt und lacht. Aber nichts war schön und nichts war lustig. Mein Vater wollte nicht, dass ich jemals wieder über den Finsterbach ging.
    »Flint!«, rief da jemand von drüben. Es war Mama. Wieso nannte sie ihn beim Vornamen? Ich sah zu Flint auf und sein Gesicht war nass vom Regen. Fast kam es mir vor, als wäre es auch nass von etwas anderem. Alles Mögliche kämpfte auf diesem Gesicht miteinander, Wut und Freude und Scham und verletzter Stolz. Joern griff in seine Tasche und hielt etwas hoch. Es war der goldene Ring.
    »Erinnerst du dich?«, rief Mama.
    »Ob ich mich erinnere?«, rief Flint durch den Regen zurück. »Fünfundzwanzig Jahre habe ich damit verbracht, mich zu erinnern. Jeden verdammten Tag habe ich mich erinnert! Ich habe versucht die Erinnerungen zu begraben, auf einer Lichtung, an einem Fluss. In einem leeren Sarg. Aber ich konnte es nicht! Oh nein, ich konnte es nicht! Ich hätte weit, weit weggehen sollen, aber ich wollte weiter ein Auge auf die Schwarze Stadt haben, weil du dort warst. Was für ein Fehler.«
    Mama schwieg.
    Das Polizeiauto hielt jetzt auf der anderen Seite und dieMänner sprangen heraus. Aber als sie Flint sahen, der doch eigentlich tot war, blieben sie stehen und starrten ihn ungläubig an. Eine zweite Sirene kam über die Felder heran.
    »Fünfundzwanzig Jahre habe ich mich daran erinnert, wie du mich verlassen hast, kurz bevor wir heiraten wollten!«, schrie Flint. »Ich habe mich erinnert und aus der Ferne zugesehen, wie du jemand anderen geheiratet hast! Als ich hörte, dass er dich nach sechs Kindern hat sitzen lassen, wollte ich schadenfroh sein, aber es gelang mir nicht. Verflucht, ich habe ein Paradies gebaut, nur für dich, und du wolltest es nicht mit mir teilen!«
    »Doch«, sagte Mama. »Aber du hast gesagt, ich müsse versprechen, nie wieder in die Schwarze Stadt zu gehen. All meine Freunde dort nie wiederzusehen. Das konnte ich nicht.«
    »Ha, du wolltest meine Mutter genauso einsperren wie mich!«, schrie ich. »Weißt du was? Ich hasse dich! Oh ja, ich hasse dich!«
    »Deine Mutter?«, fragte Flint. » Das ist deine Mutter?«
    Ich nickte und er schwieg lange. Alle schwiegen. Nur das Geräusch des Regens war zu hören und ab und zu ein Hecheln von Flop oder das Schnauben der Pferde.
    »Damals, vor fünfundzwanzig Jahren«, sagte Flint schließlich, »hätte ich gern einen Sohn gehabt. Einen eigenen.«
    »Du hast einen Sohn«, antwortete Mama. »Er wollte mit dir reden, viele Male. Aber du wolltest mit niemandem reden. Mit niemandem aus der Schwarzen Stadt. Sein Name ist Onnar.«
    Da ließ Flint mich vor lauter Überraschung los und ich wusste, dass das die einzige Chance war. So wie die Feuerleiter meine einzige Chance gewesen war. Ich würde es schaffen. Ich musste Flint zeigen, dass man die Welten verbinden konnte, die schöne und die hässliche. Dass es nicht zu spät war. Ich musste es ihnen allen zeigen.
    »Seht her!«, schrie ich, so laut ich konnte. »Es gehört alles zusammen – die Schwarze Stadt und der Norderwald! Und es ist ganz leicht, hinüberzugehen!«
    »Neeeeeeeeein!«, schrien Flint und Mama gleichzeitig.
    Aber es war zu spät. Ich stand schon auf dem einen letzten Baumstamm und breitete die Arme aus, wie ich es bei Seiltänzern in Filmen gesehen hatte. Dann balancierte ich über den Stamm, Schritt um Schritt. Ich durfte nur nicht nach unten sehen, nicht in die Todesschlucht. Ich sah Joern an.
    Er lächelte mir entgegen. Seine Lippen formten Worte. Du kannst es, las ich.
    In diesem Moment fegte ein Windstoß noch mehr Regen heran, fegte ihn mir ins Gesicht und ich verlor das Gleichgewicht. Ich ruderte mit beiden Armen, versuchte mich zu fangen und schaffte es nicht. Es war, als hörte ich die Flügelschläge des Kjerks aus meinem
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