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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin
Autoren: Caren Benedikt
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    1 . Kapitel
    Lünen im Jahr 1349
    N ur drei Tage. Mehr Zeit blieb ihr nicht, um so weit wie möglich fortzukommen. Eilig stopfte Anna ihre Habseligkeiten in das Tuch, das sie mit einem groben Knoten zum Bündel geschnürt hatte. Als sie das Seidenkleid ganz unten aus der Truhe zog, stockte sie und drückte es an sich. Tief atmete sie den Duft ein. Das Gewand war das Einzige, was ihr von der Mutter geblieben war, und all die Jahre über hatte sie es gehütet wie einen wertvollen Schatz.

    Ihr gesamtes Vermögen bestand aus den Münzen, die sie mühsam Tag für Tag in einem kleinen Säckchen inmitten ihres Strohlagers versteckt hatte. Welch unbeschreibliche Angst hatte sie jedes Mal ausgestanden, wenn sie aus der Schänke oder vom Markt heimkam und die Einnahmen bei ihrem Vater ablieferte. Ganz vorsichtig, damit kein Verdacht aufkam, behielt sie nie mehr als nur einen Silberpfennig für sich. Wäre sie von ihrem Vater dabei ertappt worden, er hätte sie totgeprügelt. Doch meist war er zu betrunken, um ihr auf die Schliche zu kommen. Zufrieden spürte sie nun das Gewicht der Geldkatze um ihren Hals. In den letzten Jahren hatte sich genug angesammelt, dass sie fortlaufen und anderswo ein neues Leben beginnen könnte. Wie hatte sie diesen Tag herbeigesehnt! Doch nun, da er gekommen war, verspürte sie die Erleichterung nicht, die sie sich so sehr erhofft hatte.

    Anna schämte sich nicht des befreienden Gefühls, das sie empfunden hatte, als die Büttel ihren Vater abführten. Solange sie ihn wegsperrten, war sie in Sicherheit, wenngleich diese nicht lange anhalten würde. Dass der Schultheiß durchgreifen würde, hatte sich abgezeichnet. Zu vielen Menschen war Helme das Geld schuldig geblieben. Nur ihm selbst war es in seinem Dunstkreis von Bier und Schnaps entgangen. Nun war die Gelegenheit für ihre Flucht gekommen. Anna rechnete damit, einen guten Vorsprung herausholen und ihre Spuren verwischen zu können. Drei Tage, mehr Zeit bliebe ihr nicht. Zum Glück hatten sie Helme so überraschend mitgenommen, dass Anna dem Schicksal entgangen war, einem Kumpan ihres Vaters zu Willen sein zu müssen, um so einen Teil seiner Schulden zu begleichen. Helme hatte nur gelacht, als Anna ihn unter Tränen anflehte, ihr diese Schmach zu ersparen, sie gepackt und in das Kellerloch sperren wollen, gerade in dem Moment, als der Schultheiß mit einem Helfer die Kate betrat und ihn mitnahm.
    Der letzte Blick, den sie ihm zuwarf, bevor er ins Freie gezerrt wurde, ließ all den Hass und die Verachtung erkennen, die sich seit dem Tod ihrer Mutter vor bald zehn Jahren in ihr angesammelt hatten. Sein wütendes Gebrüll verriet Anna, dass er den Ausdruck in ihren Augen sehr wohl hatte lesen können.
    Jetzt raffte sie ihre wenigen Habseligkeiten, schnürte mit dem zerschlissenen Tuch, das sie über ihr Lager gespannt hatte, ein Bündel und verließ das Haus. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, blickte sie sich ein letztes Mal um. Nie wieder würde sie zurückkehren. Wenn sie es schaffte, ohne Spuren zu hinterlassen, zu verschwinden, läge ein neues Leben vor ihr. Finge er sie jedoch wieder ein, bliebe ihr nichts, als sich den kleinen geschnitzten Holzdolch, den sie sich unter den Röcken fest ans Bein geschnürt hatte, ins Herz zu rammen. Sie war bereit dazu. Weder Schmerz noch Tod würden ihr die gleichen Qualen bereiten, die sie empfand, würde sie weiter mit ihm leben müssen. Leise zog sie die Tür ins Schloss, atmete geräuschvoll aus und trat auf den Weg. Bis Dortmund, die nächstgelegene Stadt, bräuchte sie nicht mehr als den Nachmittag. Hier würde er sie als Erstes suchen. Bis nach Münster, in die andere Richtung, verginge dagegen ein ganzer Tag. Doch Anna wollte weder in den einen noch in den anderen Ort. Zielsicher setzte sie ihren Weg fort. Sie hörte schnelle Schritte hinter sich, drehte sich jedoch nicht um. Ihr Atem ging rasch und flach, sie ballte die Hände zu Fäusten.
    »Wo willst du hin?«
    Erleichtert atmete sie aus, als sie die Stimme erkannte und stehen blieb.
    »Wo willst du hin?«, wiederholte Jakob. Der Achtjährige lebte in der Kate seiner Tante, nur einen Steinwurf von Annas Heim entfernt.
    »Ich gehe fort.«
    »Weshalb?«
    Anna schwieg.
    »Kommst du wieder?«
    Ruhig schüttelte sie den Kopf.
    »Und wohin willst du?«
    Anna schaute sich um, konnte jedoch niemand entdecken, der ihr Gespräch belauschen konnte.
    »Du darfst es aber niemandem sagen, hörst du?«
    Jakob nickte eifrig.
    »Vor allem nicht
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