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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin
Autoren: Caren Benedikt
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Freund meiner Eltern. Nach ihrem Tod hat er sich um mich gekümmert.«
    »Was ist geschehen?«
    Gawin schwieg. Statt zu antworten, stopfte er sich wieder Fleisch in den Mund und kaute geräuschvoll. Er wollte ihr nicht erzählen, was passiert war. Was hätte er auch schon groß sagen sollen?
    Seine Eltern waren gestorben, noch bevor er sich ihre Gesichter hatte einprägen können. Ein Mann, der ihm erzählte, ihr Gefährte gewesen zu sein, nahm sich seiner an und ließ ihn auf seinem Schiff leben, bis zu jenem Tag, an dem er wegen einer Gaunerei am höchsten Mast aufgeknüpft worden war. Ihn hatte die Besatzung beim nächsten Anlegen an Land abgesetzt und sich selbst überlassen. Das war viele Jahre her, aber er wollte weder jetzt noch irgendwann sonst in seinem Leben wieder darüber sprechen.
    Anna sah die Veränderung in seinem Gesicht. Er brauchte nichts weiter zu sagen, sie wusste auch so, dass er nicht darüber reden wollte.
    »Du hast mir gestern sehr geholfen«, sagte sie. »Was ist, wenn der Meier dich erwischt?«
    »Er weiß ja nicht, dass ich es war. Außerdem hat er mich bisher auch nie bemerkt.«
    »Ich will nicht, dass dir etwas geschieht.«
    Gawin spürte, wie er errötete. Noch nie hatte ihm jemand etwas so Freundliches gesagt. Sein Herz klopfte schnell in seiner Brust.
    »Warum?«, brachte er überrascht hervor.
    Anna hob kurz die Schultern. »Ich weiß nicht. Weil du mir geholfen hast.« Sie machte eine kurze Pause. »Wie alt bist du?«
    Er überlegte. Nicht weil er abwog, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte. Gawin wusste es einfach nicht.
    »Vierzehn«, antwortete er. »Nein, warte, eher fünfzehn. Wir haben Frühjahr.«
    Seine Antwort ließ Anna erschauern: Er konnte sein eigenes Alter nicht mit Gewissheit benennen. Sie empfand tiefes Mitleid mit ihm. Dieser Junge verkörperte für sie die Einsamkeit. Sie räusperte sich.
    »Dann bist du bald ein Mann. Willst du dein Leben etwa damit verbringen, dich in einer feuchten Höhle zu verstecken?«
    Gawin zuckte mit den Schultern. Anna wartete noch einen Moment, ob er etwas sagte. Schließlich begann sie ihre Habseligkeiten zusammenzusammeln.
    »Ich werde mich jetzt aufmachen. Hab Dank für deine Hilfe.«
    »Ich zeige dir den Weg hinaus. Sonst stößt du in der Dunkelheit noch irgendwo an.«
    Dicht hinter Gawin kroch Anna aus der Höhle. Der Morgen graute, und nur wenig Licht drang durch das Blätterdach der Bäume auf den Waldboden hinab.
    »In welche Richtung willst du?«
    Anna zögerte. Sie wollte ihm nicht die ganze Wahrheit sagen. Zu groß war ihre Angst, dass ihr Vater irgendwann hier auftauchen und Gawin nach ihr befragen könnte. Wer wusste schon, wie lange es dauern würde, bis der Junge sie unter Schmerzen verriet? Doch bereits im nächsten Moment schalt sie sich einen Dummkopf. Wie sollte ihr Vater ausgerechnet darauf kommen, in diesem Wald nach ihr zu suchen, und dann auch noch direkt auf Gawin stoßen?
    »Du musst es mir nicht sagen«, unterbrach Gawin ihre Gedanken.
    »Das ist es nicht«, gab sie schnell zurück. »Ich will an der Weser entlang flussabwärts.«
    »Komm! Ich zeig dir den Weg.« Gawin schlug sich vor ihr durch das dichte Gebüsch, hielt die Zweige für sie beiseite und ließ sie hindurchschlüpfen. Es dauerte nicht lang, bis sie eine Lichtung erreichten und er stehen blieb.
    »Du musst da runtergehen«, deutete er mit ausgestrecktem Arm nach rechts. »Nach der Lichtung kommst du wieder in ein kleines Waldstück. Die Bäume stehen dort nicht sehr dicht. Halte dich dort linker Hand, dann kommst du bald an eine Weggabelung. Auch hier hältst du dich links. Der Weg führt dich aus dem Wald hinaus.«
    Anna folgte mit den Augen seinem Fingerzeig. Sie traute sich nicht, noch einmal zu fragen, ob er sie nicht begleiten wolle. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, sich allein durchzuschlagen. So ein ungepflegter, halb verhungerter Kerl wie Gawin würde sie nur aufhalten.
    »Es soll ein Kloster in Rehburg-Loccum geben. Kennst du es?«
    Gawin runzelte die Stirn. »Hast du nicht gesagt, dass du in eine Stadt willst?«
    »Ich will ein paar Tage im Kloster unterkommen, um dort zu rasten und mir neue Kleider zu nähen.«
    »Und du glaubst, die Ordensschwestern geben dir einfach so Stoff für ein Kleid, nur weil du darum bittest?«
    Anna zuckte mit den Schultern. Sie würde ihm unter keinen Umständen verraten, dass sie genug Geld dabeihatte, um den Schwestern ganze Stoffballen abzukaufen.
    »Na, versuchen kannst du es ja«, räumte Gawin ein
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