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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin
Autoren: Caren Benedikt
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Manche sind hohl, andere nicht.«
    »Lebst du allein hier?«
    Seine Miene verfinsterte sich, und Anna bereute augenblicklich, ihm diese Frage gestellt zu haben.
    »Entschuldige.«
    »Schon gut. Es stimmt ja, ich bin allein.« Das hatte er ursprünglich nicht sagen wollen, doch nun, da es heraus war, tat es ihm gut, und seine Anspannung ließ nach.
    »Ich auch.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
    »Sind deine Eltern tot?«, fragte Gawin.
    Anna nickte. »Und deine?«
    »Ich habe sie nie kennengelernt.« Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte er ihr die Wahrheit gesagt. Ein ungewohntes Gefühl. Wann immer er in den vergangenen Jahren ein Wort über sein Leben verloren hatte, spann er stets eine Geschichte zusammen, die ihm im jeweiligen Moment passend erschien. Manchmal wusste er selbst nicht mehr, was wahr oder erfunden war.
    »Wie lange lebst du schon hier?«
    »Ein paar Jahre. Für mich ist es in Ordnung, wenn ich genug zu essen finde.« Leise fügte er hinzu: »Nur im Winter ist es schwer.«
    Anna nickte, dann schwiegen beide eine Weile.
    »Du kannst hierbleiben, wenn du willst«, nahm Gawin das Gespräch wieder auf.
    Anna sah ihn an. »Bis morgen früh. Dann muss ich weiter.«
    Ihre Antwort versetzte ihm einen Stich. Nie zuvor war jemand außer ihm in der Höhle, seinem Zuhause, gewesen. Und es hatte ihm nichts ausgemacht. Doch jetzt, wo sie mit ihm am Feuer saß und die Einsamkeit durchbrochen hatte, die ihn seit Jahren umgab, wollte er nicht, dass sie wieder ging.
    »Wo willst du hin?«
    Wieder war ihre Antwort nur ein Schweigen. Gawin nahm einen der Fleischspieße, prüfte ihn und reichte ihn Anna.
    »Ist fertig.«
    Er sammelte die anderen Stöcke ein, legte sie sorgfältig auf das Tuch, in dem sich das rohe Fleisch befand, und aß endlich selbst das erste Stück. Der Genuss, den ihm diese Mahlzeit bereitete, war ihm deutlich anzusehen. Seine Besucherin verfolgte aus dem Augenwinkel heraus, dass er jeden Bissen lange kaute, bevor er ihn hinunterschluckte. Sie selbst hatte bisher keinen Hunger gekannt und fragte sich nun, was wohl schlimmer war. Ihr eigenes elendes Dasein bei ihrem Vater oder Gawins Leben, geprägt von Hunger, Angst und Einsamkeit.
    »Willst du mitkommen?«, hörte sie sich selbst sagen, ohne zuvor darüber nachgedacht zu haben.
    Gawin blickte verwundert auf. »Wohin?«
    Ihr Herz klopfte. Sie hatte ihn ganz spontan gefragt und überlegte nun, wie es wohl wäre, eine Begleitung zu haben. Gawin sah sie jedoch so erwartungsvoll an, dass sie wünschte, ihren Mund gehalten zu haben.
    »Ich will in die Stadt.«
    »In welche?«
    Sie antwortete nicht.
    »Und was willst du dort?«
    »Leben«, erklärte sie sofort. »In Freiheit leben und Kleider nähen.«
    Gawin schien verblüfft. »Bist du Näherin?«
    »Ich habe genäht, dort, wo ich bisher lebte, und die Kleider auf den Märkten verkauft.«
    »Aber du hast gar keine Stoffe bei dir.«
    Schon wollte Anna nach der Geldkatze um ihren Hals greifen, doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne und legte beide Hände um den Fleischspieß.
    »Ich werde Stoff und Garn kaufen, sobald ich den nächsten Markt erreiche.«
    Gawin gingen eine Menge Fragen durch den Kopf, vor allem die, ob sie den Stoff denn auch bezahlen könne. Doch ein Gefühl sagte ihm, dass es besser wäre still zu sein. So nickte er nur und beließ es bei ihrer Erklärung.
    »Ich kann nicht nähen, und ich habe auch kein Geld«, sagte er schließlich. »Ich wüsste nicht, wie ich in einer Stadt überleben sollte. Außerdem«, er machte eine kurze Pause, »würden sie einen wie mich gar nicht erst durchs Stadttor hineinlassen.«
    Anna erwiderte nichts. Schweigend aß sie das Fleisch, trank einen Schluck aus ihrem Wasserschlauch und rückte bis an die Höhlenwand zurück, wo sie sich zusammenkauerte. Mit einem Mal überkam sie eine gewaltige Müdigkeit. Die schützende Höhle, das Feuer, der gefüllte Bauch. Und sie war nicht allein.
    »Schlaf gut«, sagte Gawin und legte sich mit dem Rücken zum Feuer gleichfalls nieder.
    »Du auch«, vernahm er ihre Stimme.
    Einen Moment lang lag er nur so da und lauschte ihrem Atem. Es war schön, Gesellschaft zu haben. Er spürte, wie ihm eine Träne über die Wange lief. Morgen früh würde sie fort sein und er wieder allein. So einsam wie in diesem Moment hatte er sich noch nie gefühlt.

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    3 . Kapitel
    H astig schlug sie die Augen auf. Ihr Atem ging schnell, und sie versuchte, im Dunkeln etwas zu erkennen. Das Feuer war ausgegangen,
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