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Die Duftnäherin

Die Duftnäherin

Titel: Die Duftnäherin
Autoren: Caren Benedikt
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und sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.
    »Es ist noch nicht Morgen«, hörte sie Gawin in die Dunkelheit hinein sagen.
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß es eben. Schlaf weiter. Ich wecke dich, sobald der Tag anbricht.«
    Hatte er etwa schon länger dort wach gelegen und ihrem Atem gelauscht? Sie fröstelte. Die feuchte Luft in der Höhle fühlte sich klamm an, die Kleidung klebte schwer an ihrem Körper. Das Strohlager zu Hause war wärmer und vor allem trockener. Dennoch fühlte sie sich hier wohler und sicherer und empfand vor allem Stolz. Sie war geflohen, hatte den Aufbruch gewagt und ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Nie wieder wollte sie Angst empfinden und sich fügen. Lieber würde sie sterben. Mit diesen Gedanken glitt sie sanft zurück in den Schlaf, während Gawin weiterhin mit bangem Herzen ihrem Atem lauschte. Sobald der Morgen da wäre, würde sie fortgehen und ihn zurücklassen. Einen Moment lang, einen kurzen Augenblick, hegte er den Gedanken, den Ausgang zu versperren und sie dadurch zum Hierbleiben zu zwingen. Er wollte nicht mehr allein sein. Mutlos seufzte er, als er wieder zur Besinnung kam. Selbstverständlich würde er die Höhle nicht verschließen. Er schalt sich selbst einen Dummkopf. Einen Dummkopf, der es nicht anders verdiente, als für immer allein zu sein.
    »Es wird Tag.« Seine Stimme klang sanft, vorsichtig berührte er ihre Schulter. Anna kam es so vor, als habe sie seit dem letzten Wachwerden nur einen Wimpernschlag lang die Augen geschlossen, dabei mussten seither mehrere Stunden vergangen sein.
    »Danke.«
    Sie setzte sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. Sie konnte keinen Lichtunterschied zu vorher ausmachen. Woher Gawin wissen wollte, dass der Tag mittlerweile angebrochen war, konnte sie sich nicht erklären.
    »Willst du noch etwas essen?«
    Im ersten Moment wollte sie ablehnen, doch dann besann sie sich. Es kam nicht darauf an, ob sie sofort aufbrach oder sich noch etwas Zeit ließ. Ihr nächstes Ziel würde sie heute sowieso nicht erreichen und ob sie Gelegenheit fände, eine sichere Rast einzulegen, konnte sie nicht wissen.
    »Ja.«
    »Dann entfache ich das Feuer.«
    »Und du?«, fragte Anna. »Bist du sicher, dass du wirklich hierbleiben und nicht mit mir kommen willst?«
    Funken sprühten auf. Eine kleine Flamme fraß sich durch trockenes Gehölz, entzündete ein breiteres Holzscheit und erwärmte sofort ihre Haut. Anna rieb sich die Arme und streckte ihre Hände dem Feuer entgegen. Gawin hatte ihr noch nicht geantwortet, und sie suchte seinen Blick. Er sah sie nicht an, steckte geschäftig das Fleisch auf die Spieße und lehnte sie dann an das Gestell, das er am Vortag über der Feuerstelle gebaut hatte. Einen Spieß behielt er in den Händen und drehte ihn mit gleichmäßigen Bewegungen über der Flamme. Auf ihm befand sich eines der Fleischstücke, die er schon gestern vorgegart hatte. So brauchte es nicht lange, bis er es für den Verzehr für gut befand und an Anna weiterreichte.
    »Danke.«
    Er nickte, nahm dann einen der angelehnten Spieße und prüfte das Fleisch. Mit nur geringem Appetit zupfte er Stücke vom Rand ab und stopfte sie sich in den Mund.
    »In welche Stadt willst du gehen?«
    »Mal sehen«, wich Anna der Frage aus.
    »Einen wie mich wollen sie in der Stadt nicht.« Es gelang ihm nicht, die Traurigkeit dabei aus seiner Stimme zu verbannen.
    »Du könntest dir dort Arbeit suchen.«
    »Was soll einer wie ich schon arbeiten?«
    Anna überlegte. Die Frage war berechtigt. Wenn er schon so lange im Wald wohnte und nie etwas mit den Stadtmenschen zu tun gehabt hatte, war sein Leben nicht nur völlig anders verlaufen als das ihre. Er hatte zudem auch nie irgendeine Art von Tätigkeit erlernt oder ausgeübt. Daran hatte sie bisher nicht gedacht.
    »Du kannst gut jagen.«
    »Das kann jeder.«
    Sie wollte widersprechen, wusste aber nichts Stichhaltiges dagegen einzuwenden.
    »Hast du denn nie woanders gelebt? Ich meine, außer hier im Wald?«
    Er zögerte und hörte auf zu essen. Stattdessen zupfte er missmutig weitere Fasern von dem gebratenen Stück Fleisch auf seinem Spieß ab. Noch nie hatte er jemandem seine Geschichte erzählt. Manchmal glaubte er ja selbst nicht mehr, dass es ein Leben außerhalb des Waldes für ihn gegeben hatte.
    »Ich war auf einem Schiff«, hörte er sich selbst mit rauher Stimme sagen.
    »Du bist zur See gefahren? War dein Vater Seefahrer?«
    Gawin schüttelte den Kopf. »Er war nicht mein Vater. Nur ein
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