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Der Hypnosearzt

Der Hypnosearzt

Titel: Der Hypnosearzt
Autoren: Heinz G. Konsalik
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KAPITEL 1
    Er ging mit Dagmar ganz vorn, gleich hinter dem Priester mit den beiden Ministranten und dem Mann, der die Fahne des Zechenvereins trug. Es war eine Fahne, die keiner mehr brauchte und die man nur noch bei Beerdigungen und Gewerkschaftsumzügen sehen konnte. Die Zeche Albert II hatte schon vor zwölf Jahren dichtgemacht.
    Dagmar schaffte den Weg nur mit Mühe. Sie trug schwarze Pumps mit hohen Absätzen und knickte immer wieder um. Manchmal stolperte sie, obwohl sie sich doch an Stefans rechtem Arm festklammerte. Als sie das Grab sehen konnte, bohrten sich ihre Finger so hart in sein Fleisch, daß es schmerzte.
    »Steffen, ich kann das nicht …« Sie schluchzte. »Ich kann's einfach nicht. Steffen, mir ist so schlecht …«
    Er legte den Arm um ihre Schultern.
    Es hatte zu regnen begonnen. Der Regen kam von vorn und traf Stefan Bergmanns Hand. Dagmar trug einen breiten schwarzen Hut, und der Schleier daran fiel über ihr Gesicht, all die Regentropfen schien sie nicht einmal zu bemerken. Stefan zog ihr den Schleier zurück. »Komm, Kleine, tief durchatmen, ganz tief.«
    Sie sah ihn nur an. Nie hatte er ihre Augen so groß gesehen und nie ihr Gesicht so weiß, ein Gesicht, über das die Tränen liefen, förmlich gebadet war es in Tränen und Regenwasser.
    »Ich kann nicht mehr, Steffen. Ich glaub, ich muß mich übergeben …«
    »Reiß dich doch zusammen, Herrgott.«
    Er wußte, daß ihr vor einer Woche der Arzt eröffnet hatte, daß sie schwanger war. Er wußte auch, der Vater des Kindes war ihr Chef, irgendein läppischer Filialleiter irgendeiner läppischen Drogeriekette. Er wußte, ihr war schlecht – ihm auch – und dort vorn trugen sie den Sarg: sechs Kumpels ohne Job, sechs Dauerarbeitslose oder Frührentner und ehemalige Bergarbeiter. Im Sarg aber lag Rosi, die sie im Viertel auch ›Tante Frosch‹ nannten und die für Stefan und Dagmar alles gewesen war, was es an Licht und Wärme in ihrer Jugend gegeben hatte.
    Dagmar stolperte wieder. Diesmal mußte er stehenbleiben und sie festhalten, so sehr zitterte sie. Er spürte den Regen kalt im Nacken. Auch seine Hände waren nun naß. Die anderen spannten ihre Schirme auf und sahen auf ihn und Dagmar, alles Leute aus dem Mühlbachviertel, und das Mühlbachviertel wiederum war das älteste, das ärmste, das vergessene Viertel der Stadt.
    Die alte Frau Makuleit, eine von Rosis Freundinnen, schob ihre Hand unter Dagmars Ellbogen.
    »Denk doch Kind: Sie is' im Himmel … Für sie is' alles vorbei …«
    Stefan sah in das zuckende Gesicht seiner Schwester, das die Tränen in eine schreckliche Clownsmaske voller Verzweiflung und Anklage verwandelt hatten. Ihre Wimperntusche hatte sich aufgelöst und zog schwarze wäßrige Bahnen bis zum Kinn, dazu der zerfließende Mund und die Augen, in denen nichts stand als die Bitte um etwas, das er ihr nicht geben konnte.
    »Warum, Steffen, warum?«
    Richtig – warum? Das war es: Warum, Herrgott noch mal, warum hast du dich nicht mehr ins Zeug gelegt? Warum hast du bloß versagt?
    Im Frühjahr hatte sich der Rhein wieder einmal aufgeführt wie ein wildes Tier, hatte das Land überschwemmt, Eisenbahnlinien unterspült, Bootsstege und Telegrafenmasten mit sich gerissen, und schon im Frühstücksfernsehen war zu sehen gewesen, wie er braun und zornschäumend am Pegel nach oben kletterte, die Sandsäcke überflutete, die die Leute hastig vor ihren Häusern aufbauten und wie die Reporter bis zu den Knien in der Brühe standen und in ihre Mikrofone sprachen, während die Pumpen armdicke Strahlen von Schmutzwasser aus den Kellern spuckten. Der Rhein zeigte allen, wo's langging.
    Doch um Oberhausen brauchte Stefan sich nun keine Sorgen zu machen. Das lag weit genug entfernt vom Überschwemmungsgebiet, und als seine Schwester schließlich anrief, hatte sie wie immer den falschen Zeitpunkt erwischt: elf Uhr und Hochbetrieb! Die Praxis kämpfte mit einer Grippewelle, Christa, Stefans Frau, war völlig entnervt, was bei ihr bei Gott selten vorkam. Es gab jede Menge Nebeninfekte, Lungenentzündungen, Kreislaufzusammenbrüche, und er selbst stand am Untersuchungstisch, eine Patientin vor sich, und hatte Sorgen.
    Marga, die Sprechstundenhilfe, reichte ihm den Apparat. Zunächst verstand Stefan kein Wort. Dann aber sagte Dagmar: »Du solltest besser kommen, Steffen.«
    »Was?«
    »Du mußt kommen, Steffen.«
    »Was ist? Kannst du nicht lauter sprechen? – Herrgott noch mal, ja, Marga, wir brauchen eine Überweisung. Bereiten Sie
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