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Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande

Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande
Autoren: Erin Kellison
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Prolog
    Ein Lichtstrahl in tiefer Dunkelheit.
    Der Meister aus dem Reich des Todes zog den Umhang schützend vor das Gesicht, damit ihn das intensive Leuchten nicht so stark blendete. Vergeblich. Denn die Frau war in seinem Kopf und glänzte wie flüssiges Gold. Das Feuer ihrer Seele drang heiß durch die Schleier, die die Welt der Sterblichen von den Zwielichtlanden trennte, und strich sanft über seine Haut. Sie, die Sonne, war mächtig genug, selbst ihm zuzusetzen.
    Von seinem dunklen Versteck aus spähte er in ihr Zimmer. Das Bett gemacht, das Kopfkissen unberührt. Er war zu früh erschienen, um auf den wilden Wellen ihrer Träume zu reiten und ihre nagenden Schmerzen und Sorgen zu lindern, damit sie sich ausruhen konnte. So hatte er es seit ihrer Kindheit getan. Dass das Inventar des Krankenzimmers unbenutzt in eine Ecke gepfercht stand, gefiel ihm. Volle Sauerstoffflaschen warteten neben Maschinen, die mit aufgerollten Kabeln untätig vor sich hinsummten.
    Mit dem Pinsel in der Hand saß sie auf einem Stuhl vor ihrer Staffelei und musterte ein tiefes dunkles Dreieck, das der Schein der Nachttischlampe herausschnitt. Während sie in seine Schattenwelt blickte, betrachtete er staunend die ihre. Auf die vor ihr stehende Leinwand hatte sie eine Märchenlandschaft gemalt: Satte Hügel, gesäumt von einem dunklen Wald, leuchteten im Licht der Sterne. Dahinter erstreckte sich das weite graue Meer.
    Ihr Herz verkrampfte sich, und je näher ihre Zeit rückte, desto durchlässiger wurden die Schleier zwischen ihnen. Ebenso sehr wie er sich freute, als ihr plötzlicher Schmerz in ihm widerhallte, wehrte er sich dagegen, etwas von ihr zu spüren.
    Sie rang nach Luft, ihre Hände fielen auf die Knie herab. Die Spitze des Pinsels hinterließ einen grünen Farbfleck auf dem Rock ihres Kleides. Als sie die Zähne zusammenbiss und ihr Herz zurück in einen gleichmäßigen Rhythmus zwang, bewunderte er ihre Stärke. Seltsam, dass sie ihr Talent dazu nutzte, ein Bild von den Zwielichtlanden zu malen, wo sie doch so am Leben hing.
    Er schlich weiter in die grauen Schattierungen ihres Zimmers, bis er ihren Geruch wahrnahm – den klaren Geruch, der auf ihrer Haut tanzte und in ihren Haaren hing, den Moschusgeruch der Farbe an ihren Fingern, die sich nie ganz abwusch, und etwas Intensives, Rätselhaftes, das nach Frau roch und nach Sterblichkeit.
    Er spürte, wie sie all ihre Energie zusammennahm, spürte ihre grimmige, von Verzweiflung durchzogene Entschlossenheit, mit der sie ihr junges Herz antrieb, so lange weiterzuschlagen, bis sie etwas Bleibendes für die Nachwelt geschaffen hatte. Während sie ihre Welt subtil und zugleich einschneidend veränderte, strömten ihre Gefühle über ihn wie ein wilder Fluss, aber er war nicht in der Lage, ihre Gedanken zu entschlüsseln, die Grundelemente ihres Geistes, ihres inneren Antriebs und ihrer Kreativität. Das war Schönheit und Kraft der Sterblichkeit. Wenn sie nur wüsste …
    Sie riss sich zusammen. Hob den Pinsel hoch, führte die Spitze zur Leinwand, hielt inne und neigte den Kopf zur Seite.
    »Bist du da?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
    Ihre Schwester befand sich im Nebenraum, außer Hörweite, und starrte auf ein silbrig leuchtendes Fenster, in dem sich Lichter bewegten und aus dem Gelächter schallte.
    »Ich weiß, dass du da bist«, sagte sie, wandte den Blick dabei jedoch nicht von ihrem Gemälde ab. Der Pinsel setzte sich erneut in Bewegung. »Du kannst genauso gut herauskommen und ausnahmsweise mit mir sprechen.«
    Aha. Sie sucht nach mir. Endlich ist es so weit, aber irgendwie ist es noch zu früh. In seiner Brust loderte eine kleine Flamme, doch er zwang sich, wieder in die Dunkelheit zurückzuweichen, und zog den Umhang fester um seine Schultern.
    Sie seufzte. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
    Wieder hielt sie inne und sah sich im Zimmer um, ihr Blick fiel auf diese Ecke und jenen leeren Stuhl, streifte ihn und spähte nur noch neugieriger in die tiefe Dunkelheit auf der anderen Seite.
    Sie lachte kurz und ironisch auf. »Dass du Angst vor mir haben könntest, ist originell. Das dürfte eine Premiere sein.«
    Allerdings . Die meisten fürchteten sich allein bei dem Gedanken an ihn. Nicht aber sie.
    »Nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht haben – nun, nicht wirklich zusammen , aber du weißt schon, was ich meine –, wünsche ich mir, einmal mit dir sprechen zu können. Andererseits nehme ich an, dass es nicht mehr lange dauert, bis wir
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