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Der Hypnosearzt

Der Hypnosearzt

Titel: Der Hypnosearzt
Autoren: Heinz G. Konsalik
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abgesperrt.
    Vor fünfundzwanzig Jahren hatte es hier nichts als Reifenstapel gegeben, und die Jungen aus der Mühlbachstraße hatten sich wilde Schlachten gegen die von der Albertstraße geliefert, oder sie hatten sich mit ihren Mädchen abgegeben. Ein Loch im Zaun, durch das man hindurchklettern konnte, fand sich immer, und schließlich: Gab es ein idealeres Versteck für die ersten scheuen Bemühungen, den ersten halb mißlungenen Zungenkuß als das Innere von vier aufeinandergetürmten LKW-Reifen? Nur daß die im Sommer ziemlich penetrant nach Gummi rochen.
    Stefan Bergmann parkte den Wagen neben dem Schild Erich Kronacher – Ihr Autofreund in Oberhausen und warf einen Blick zu den drei blauen zerrissenen Perlonfahnen hinauf. Es war jetzt zehn Uhr dreißig. Um sieben Uhr bereits war er in Burgach losgefahren, drei Stunden hatte er gebraucht, eine Schande, aber die Autobahn war überfüllt und eingehüllt in Regenschwaden. Dafür knatterten jetzt Kronachers vergammelte Perlonfahnen fröhlich im Wind, und das bißchen Sonne ließ sie leuchten wie hellblaue Saphire.
    Stefan schloß seinen Wagen ab.
    In der schmalen Mühlbachstraße gab es nur auf der rechten Seite Stellplätze. Der Großteil der Leute hier war arbeitslos oder in Rente, und so mußten die Karossen täglich frisch gewienert werden, um dann mit leerem Tank den ganzen Tag an der Bordsteinkante zu glänzen, zusammen mit den Zweitwagen für den Junior oder die Tochter, auch die auf Raten bei Kronacher gekauft. Klar, aber mit Extraspoiler und Breitwandreifen.
    Es war besser, man ging die paar Schritte zu Fuß.
    Und das tat Stefan.
    Tante Frosch bewohnte die Nummer 24, das letzte Haus auf der rechten Seite. Und das größte. Das Grundstück ging direkt bis zum Kanal. Das Haus hatte Stefans Großvater erbaut: fünf Zimmer, zwei Toiletten, alles über drei Stockwerke verteilt, wenn man den Taubenverschlag von Kammer unter dem Dach ein Stockwerk nennen wollte. Die Jahreszahl stand auf dem rechten der beiden grauen Betonklötze, die die Treppe zur Haustür einfaßten: 1923.
    An einem Märztag vor tausend Jahren hatte Tante Frosch Stefan und seine Schwester Dagmar in die Mühlbachstraße gebracht. Sie wurden gefahren, im Taxi des alten Kronacher. Ihre Schulbücher und Kleider lagen im Kofferraum. Immer wieder erinnerte sich Stefan Bergmann später, wie Kronacher nach dem Ranzen gegriffen, ihn energisch auf seinem Rücken festgeschnallt und dann Stefans Hand in seine eigene Pranke genommen hatte. Sonst blieb wenig von diesem Tag, nichts als ein tanzender Kreis verschwommener Bilder: Tante Frosch, die plötzlich in der neuen großen, frisch gestrichenen Wohnung seiner Eltern in der Danzigerstraße aufgetaucht war. Ein paar fremde Erwachsene hatten hier herumgestanden, die sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Tante Frosch aber hatte die Koffer geholt und gepackt, kopfschüttelnd die Wohnung betrachtet und mit den anderen kaum ein Wort gewechselt.
    »Ist schon schlimm, Steffen«, hatte sie gesagt und mit beiden Händen seine Schultern festgehalten. »Aber jetzt kommst du zu mir. Was kann man schon ändern?«
    Papa und Mama waren tot – das war es, das man nicht ändern konnte. Beide in Papas neuem Mercedes gestorben, am Brückenpfeiler des Autobahnkreuzes Duisburg.
    So zogen Stefan und Dagmar in die Mühlbachstraße Nummer 24. Und bald wurden der Mann, dieser rotgesichtige, ewig brüllende, vor Ungeduld zitternde, jähzornige Mann, den sie ›Papa‹ genannt hatten, und die Frau, die noch nicht einmal den Blick von ihrer Schreibmaschine hochnehmen durfte, wenn der Hunger Dagmar und Stefan in ihr Büro trieb, zu Schatten, die weder Erinnerungen noch Gefühle auslösten.
    »Den Otto hat's immer gereut, daß er eine aus der Mühlbachstraße geheiratet hat. Dabei war meine Schwester die Beste von uns. Aber sie hatte keinen Mumm, die Anni. Die hatte immer nur Angst …« hatte Tante Frosch gesagt.
    Es war das einzige Mal, daß sie darüber sprach.
    Sie hatte noch einen Satz hinzugefügt: »Die Schraubenhandlung war's ja nicht allein. Auch die schicke Wohnung reichte nicht, ein Mercedes mußte es sein. Den hat der Otto dann ja auch gekriegt. Als Sarg, als Luxussarg …«
    Bergmann lauschte dem Klang seiner Schritte auf dem ausgetretenen Bürgersteig. Die Mehrzahl der Häuser hatte vor ein paar Jahren einen neuen Verputz erhalten, kanariengelb, blau, grün, rosa. Für ihn allerdings war nichts gelb, nichts blau, nichts grün oder rosa. Er sah die braunen Backsteine
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