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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Autoren: Douwe Draaisma
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KEIN DRAAISMA-SYNDROM

    Manchmal bekommt eine Erinnerung erst Jahre später eine Bedeutung. Als Student arbeitete ich am Wochenende in einem Seniorenheim. Zu meinen Aufgaben gehörte der Brotwagen: Am späten Nachmittag machte ich zusammen mit einem Altenpfleger die Runde durch die Zimmer, um das Abendessen vorbeizubringen. Für Bewohner, die nicht mehr gut zu Fuß waren oder schlecht sehen konnten, deckten wir auch rasch den Tisch. Eines Tages sagte eine Bewohnerin, während wir Teller und Besteck für sie bereitlegten, sie sehe ein Männchen im Garten. Ein Männchen? Wir folgten ihrem Blick. Im Garten war nichts zu sehen. Sie blieb hartnäckig: »Dort steht ein Männchen.« Ich schaute, ob sie vielleicht etwas anderes für ein Männchen halten konnte. Zwischen den Sträuchern stand eine Laterne, etwa einen Meter hoch, mit einem Schirm, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Hut aufwies. »Meinen Sie die Lampe da hinten?« »Nein, das ist eine Lampe, das sehe ich auch!« Wir sagten beide, dass wir wirklich kein Männchen sähen. Der Pfleger rückte ihr den Stuhl zurecht, verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen und deutete eine Plemplem-Geste an. Das schien auch mir eine befriedigende Erklärung. Mit einem herzlichen »Lassen Sie es sich schmecken!« setzten wir unsere Runde fort.
    Gut zwanzig Jahre später las ich von einem recht seltenen Syndrom, das vor allem ältere Menschen trifft, deren Sehkraft nachgelassen hat. Sie sehen manchmal Bilder. Meist handelt es sich um Bilder von Personen, häufig in Miniatur. Sie kommen, wenn die Dämmerung anbricht und Ruhe eintritt. Es ist ein vollkommen harmloses Phänomen, bekannt als >Bonnet-Syndrom<, nach dem Schweizer Charles Bonnet, der diese Bilder 1760 als Erster beschrieb. Bonnet hatte sie nicht selbst gesehen; er hatte von seinem Großvater davon gehört, als dieser um sein neunzigstes Lebensjahr nach einigen misslungenen Operationen am grünen Star Bilder von Personen zu sehen begann.
    Ich hatte jemanden mit dem Bonnet-Syndrom getroffen und nichts Besonderes bemerkt. Ich begriff, wie leicht es ist, etwas nicht zu entdecken. Sogar etwas unWerzuentdecken war mir nicht gelungen.
    Warum Bonnet und ich nicht? Ein augenfälliger Unterschied -und längst nicht der einzige - ist, dass er seinen Großvater ernst genommen hat. Bereits das war eine große Leistung, denn der alte Mann erzählte, er sehe nicht nur Personen, sondern auch Springbrunnen, dreißig Fuß hohe Kutschen oder ein sich drehendes Rad, das durch die Luft schwebte. Statt anzunehmen, sein Großvater leide unter geistiger Altersschwäche, akzeptierte Bonnet die Authentizität der Bilder, dachte über eine mögliche Erklärung nach und beschrieb dann in einem seiner Bücher eine neurologische Störung, die visuelle Wahrnehmungen verursachen kann, ohne das Urteilsvermögen zu beeinträchtigen. Im folgenden Kapitel ist zu lesen, wie diese Störung im Jahre 1936 zum >Bonnet-Syndrom< wurde und wie spätere Generationen von Psychiatern und Neurologen versucht haben, diese Bilder zu erklären.
    Aber wenn es nun nie einen Bonnet gegeben hätte und ich diese Frau und ihr Männchen genauso ernst genommen hätte wie Bonnet seinen Großvater, gäbe es dann heute ein >Draaisma-Syn-drom    Um nur einen Aspekt zu nennen: Die Entdeckung muss veröffentlicht werden. Dafür hat jede Zeit ihre eigenen Konventionen.
    Bonnet beschrieb seine Beobachtungen in einem Buch; heutzutage kommunizieren Neurologen und Psychiater über Fachzeitschriften, die hohe Ansprüche an die Untersuchungen und die Form der Ergebnispräsentation stellen. Eine Fallstudie bringt zurzeit wenig Gewicht auf die Waagschale. Der potenzielle Namensgeber müsste eine große Anzahl ähnlicher Fälle sammeln - eher hundert als fünfzig - und in seinem Bericht spezifische Angaben zu Alter, Geschlecht, Sehkraft, Medikamenteneinnahme und Ausbildungsniveau machen. Er müsste eine Erklärung bieten und am besten auch Experimente vorweisen, die verdeutlichen, welche Faktoren Einfluss auf das Sehen solcher Bilder haben. Anschließend müsste innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft zumindest vorläufiger Konsens über die Frage bestehen, ob es sich tatsächlich um ein Phänomen handelt, das nicht unter andere psychiatrische oder neurologische Krankheitsbilder
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