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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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1
    Dass Schatten
so wie Körper ich behandle
Purgatorio
, 21 . Gesang, Vers 136
    D reißig Jahre war Simón Cardoso schon tot, als Emilia Dupuy, seine Frau, ihm zur Lunchzeit im Speiseraum von Trudy Tuesday begegnete. In einer der Tischnischen im Hintergrund unterhielten sich zwei Unbekannte mit ihm. Emilia glaubte im falschen Film zu sein und zuckte zurück, wollte wieder gehen, wieder in die Wirklichkeit hinaus, aus der sie kam. Der Atem stockte ihr, die Kehle war trocken, und sie musste sich auf die Theke stützen. Sie hatte ihn ein Leben lang gesucht und sich diese Szene unzählige Male vorgestellt, doch jetzt, da sie sich abspielte, merkte sie, dass sie nicht darauf gefasst war. Ihre Augen wurden feucht, sie wollte laut seinen Namen rufen, zu seinem Tisch laufen und ihm um den Hals fallen. Doch ihre Kräfte bewahrten sie nur gerade davor, nicht mitten im Restaurant bewusstlos umzufallen und wie ein dummes Huhn Aufsehen zu erregen. Sobald sie konnte, steuerte sie auf die Nische neben der Simóns zu, setzte sich schweigend hin und wartete, dass er sie erkannte. Bis dahin würde sie Gleichgültigkeit vortäuschen und stumm bleiben müssen, auch wenn ihr das Blut in den Schläfen pochte und das Herz zum Mund herausdrängte. Sie winkte und bestellte einen doppelten Brandy. Sie musste sich beruhigen, gegen die Angst angehen, ihre Sinne könnten durcheinandergeraten wie bei ihrer Mutter. Manchmal ließen sie einige Sinne im Stich, versagte ihre Nase, verlor sie die Orientierung in Straßen, in denen sie sich im Schlaf zurechtfand, und hörte beim Zubettgehen alberne Liedchen, von denen sie nicht wusste, wie sie in ihre Musikanlage gekommen waren.
    Wieder schaute sie zu Simóns Nische hin. Sie wollte sicher sein, dass er es war. Sie sah ihn zwischen den Unbekannten, von vorn, wie er angeregt auf sie einsprach. Ein Zweifel war nicht möglich – es waren seine Gebärden, die Form seines Halses, das dunkle Muttermal unter dem rechten Auge. Überraschend war nicht nur, dass ihr Mann lebte. Noch unerklärlicher war, dass er nicht gealtert war. Er schien in seinen dreiunddreißig Jahren festgenagelt, und selbst die Kleider waren die von damals. Er trug die Twisthose, die niemand mehr zu tragen wagte, ein offenes Hemd mit ausladendem Kragen wie die von John Travolta in
Saturday Night Fever
, Koteletten und die Haare lang wie früher. Für Emilia hingegen war die Zeit auf natürliche Weise vergangen, und es wurde ihr allmählich unbehaglich in ihrem Körper. Augenringe und Gesichtsmuskeln verrieten eine Sechzigerin, während an ihm keine einzige Falte zu erkennen war. Unendlich oft hatte sie sich die Szene vorgestellt, wie sie ihm wiederbegegnen würde, und kein einziges Mal, kein einziges Mal war ihr das Problem des Alters und des Alterns in den Sinn gekommen. Diese zeitliche Inkongruenz zwang sie, die Situation zu überprüfen. Und wenn Simón zufällig wieder geheiratet hatte? Allein der Gedanke, er könnte mit einer anderen Frau zusammenleben, peinigte sie. In diesen ganzen Jahren hatte sie nie daran gezweifelt, dass er sie immer noch liebte. Er mochte Gelegenheitsbeziehungen gehabt haben, das würde sie verstehen, aber nach dem Leidensweg, den sie gemeinsam gegangen waren, würde sie nicht begreifen, wenn er sie ersetzt hätte. Die Situation war jedoch nicht mehr dieselbe. Jetzt könnte er ihr Sohn sein.
    Sie betrachtete ihn erneut, eingehender. Es erschreckte sie, wie sehr er aus der Wirklichkeit herausfiel. Er sah nur halb so alt aus wie dreiundsechzig. Ein Foto von Julio Cortázar kam ihr in den Sinn, aufgenommen in Paris Ende 1964 , auf dem der zu Beginn des Ersten Weltkriegs Geborene auch wie sein eigener Sohn aussah. Vielleicht hatte Simón, wie Cortázar, einige feine Fältchen in der Haut, die nur von nahem zu sehen waren, aber auch was sie ihn am Nachbartisch hinter sich sagen hörte, war von herausfordernder Jugendlichkeit, selbst das Timbre seiner Stimme war das eines jungen Mannes, als ob er auf dem Laufband der Zeit gerannt wäre, ohne auch nur einen Tag voranzukommen.
    Emilia fand sich damit ab, warten zu müssen. Sie schlug den Roman von Somerset Maugham auf, den sie mithatte. Mit dem Buch erlebte sie etwas Seltsames. Sie gelangte ans Ende einer Zeile und stieß auf eine Art Schranke, die ihr das Weiterlesen verwehrte. Nicht, weil Maugham sie gelangweilt hätte. Im Gegenteil, er unterhielt sie bestens. Etwas Ähnliches hatte sie mit der DVD -Fassung von
Der Tod in Venedig
erlebt. Kaum begann der Film
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