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Der Fall von Thormain

Der Fall von Thormain

Titel: Der Fall von Thormain
Autoren: Ernst Vlcek
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Ernst Vlcek
    DER FALL VON THORMAIN
    Ein qualvoller Schrei drang durch die fellbehangenen Fenster des Thronsaals. Einige der am Fenster stehenden Männer und Frauen hoben die Felle, um einen kurzen Blick auf den Richtplatz zu werfen, und wandten sich dann wieder gelangweilt ab. Was sie zu sehen bekommen hatten, war in Thormain ein alltägliches Schauspiel.
    »Der Herr der Schultern ist wieder einmal am Werk«, sagte Kend, der gar nicht nachzusehen brauchte, um zu wissen, was sich auf dem Platz vor dem Nest tat.
    Argur von Solth verzog angewidert sein verlebtes Gesicht. »Muss Welleynn ausgerechnet jetzt eines seiner Spektakel aufführen?« fragte der Herrscher von Thormain und hustete, als ihm Rauch in die Atemwege kam. Er schimpfte und fragte: »Warum qualmt das so?«
    »Kein Feuer ohne Rauch«, sagte Kend spöttisch und meinte damit die vielen Fackeln, die den Thronsaal erhellten, und das große Feuer im offenen Kamin, das für Wärme sorgte. »Offenbar sind der Kamin und die Luftschächte verstopft. Ich schicke jemand aufs Dach, um sie durchputzen zu lassen.«
    Kend gab Rigon einen Wink, der daraufhin verschwand. Er würde jemanden bestimmen, der diese gefahrvolle Aufgabe übernehmen sollte. Wieder ertönte ein langgezogener Schrei.
    »Wen lässt Welleynn an diesem Tag schultern?« wollte Argur von Solth wissen.
    »Er heißt Mythor«, antwortete Kend. »Aber der Herr der Schulter muss gleich hier sein, dann kannst du von ihm Einzelheiten erfragen.« Kend beugte sich näher zu Argur von Solth und fügte mit drohendem Unterton hinzu: »Und du wirst auch über das andere mit ihm reden, nicht wahr? Oder soll ich dich nochmals an das Schicksal deines Vorgängers erinnern? Oder an das, was einst mit Jorgan passiert ist?«
    »Lass diese Anspielungen, Kend!« sagte Argur von Solth kläglich. »Noch bin ich der König der Meere und bestimme, was in Thormain zu geschehen hat.«
    Kend lachte bösartig und flüsterte: »Du hast nur etwas zu bestellen, solange du für deine Leute sorgst. Aber es ist doch so, dass schon seit Wochen keine Enterfahrt mehr stattgefunden hat. Wann haben deine Leute die letzte nennenswerte Beute gemacht? Sag es doch!«
    »Ich weiß«, sagte Argur von Solth unbehaglich und wischte sich mit dem pelzbesetzten Ärmel seines Prunkgewands den Schweiß von der Stirn. »Ich werde mit Welleynn reden. Ich verspreche dir, dass wir schon in den nächsten Tagen auf große Fahrt gehen werden. Die Caer werden uns nicht daran hindern.«
    »Das sind große Worte, vergiss sie nur nicht, Argur«, sagte Kend. »Ich kann dir nur raten, zu deinem Wort zu stehen, sonst...«
    Kend ließ die Drohung unausgesprochen. Aber vom Richtplatz erklang wieder der unmenschliche Schrei des Unglücklichen, der an den Schultern aufgehängt worden war. Dazu lächelte Kend vielversprechend.
    Argur von Solth atmete erleichtert auf, als die beiden großen Torflügel des Thronsaals aufgingen und darin die schwarzgekleidete Gestalt des Scharfrichters auftauchte. Welleynn kam mit langen, schnellen Schritten herein und strebte geradewegs dem Thron zu. An seiner Seite entdeckte der Herrscher von Thormain eine zierliche Gestalt in einem wallenden weißen Gewand. Das musste die Schönheit sein, die ihm der Scharfrichter versprochen hatte. Argur konnte auf diese Entfernung jedoch keine Einzelheiten erkennen, weil es mit seinem Augenlicht nicht mehr zum besten stand. Er sah nur, dass die Frau in dem weißen Gewand trippelnd mit Welleynn Schritt zu halten versuchte und verzweifelt nach ihm griff.
    In diesem Moment erklang wieder ein Schrei. Er kam jedoch nicht vom Richtplatz, sondern vom Dach, verlor sich in der Tiefe und endete in einem dumpfen Aufprall. Argur verzog das Gesicht ob dieser Störung und beschloss, den ungeschickten Kaminfeger kielholen zu lassen, falls er den Sturz vom Dach überhaupt überlebt hatte.
    Welleynn erreichte mit seiner Begleiterin den Thron und verneigte sich vor der untersten Stufe. Der Scharfrichter sagte mit gesenktem Kopf und salbungsvoller Stimme: »Das ist Kalathee, deren Schönheit ich dir gepriesen habe, mein Herr.«
    »Komm herauf, schönes Kind, damit ich dich näher betrachten kann«, verlangte Argur und leckte sich die Lippen. Was er auf drei Armlängen von der Frau sah, gefiel ihm außerordentlich.
    Sie war mittelgroß, sehr schlank und so zartgliedrig, dass sie geradezu zerbrechlich wirkte. Ihre tiefliegenden, dunkelbraunen Augen blickten verzweifelt zu ihm empor. Ihre aufgetürmte Frisur hatte sich
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