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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman
Autoren: C.H.Beck
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mageres Pferd mitnehmen wollen, doch das war aus dem Waggon gestürzt und hatte sich so schwer verletzt, dass der Major es auf der Stelle erschossen hatte.
    Ein junges, ungarischstämmiges Paar, das ich noch nie gesehen hatte, weil es etwas außerhalb wohnte, stieg mit seinen zwei Kühen und den Möbeln, die es gerade erst vom Hochzeitsgeld erstanden hatte, hinzu. Die beiden schauten sich so verträumt in die Augen, als ob sie zu ihren Flitterwochen aufbrächen. Einen zerlumpten Mann, der mit wenigen Habseligkeiten und einem kaputten Karren an den Zügen aufgetaucht war, schickte der Leutnant wieder nach Hause. «Wenn der ein Volksfeind ist, dann fresse ich meine Mütze!», rief er dem Major zu. Er genoss sichtlich seine Macht.
    Die Szenerie war gespenstisch, im schwachen Scheinwerferlicht tauchten immer wieder Gestalten aus der Dunkelheit auf oder verschwanden wieder darin. Es war unmöglich zu sehen, was genau geschah, und doch war es immer dasselbe. Schicksalsergeben kamen immer noch Leute an und wurden zu einem der Waggons gewiesen, in dem noch freier Platz war.
    Für einen Augenblick dachte ich daran zu flüchten. Ich stellte mir vor, zum Knochenhügel zurückzukehren und meine Arbeit wiederaufzunehmen. Ich suchte nach Rissen und Löchern im Boden und steckte meinen Kopf durch die Tür, um zu prüfen, ob ich unbemerkt hinunterspringen könnte. Aber es waren neue Waggons, und auf beiden Seiten des Zuges hatte man Wachen aufgestellt.Schließlich ließ ich mich neben Vater fallen, der mich die ganze Zeit beobachtet hatte, und war irgendwie froh darüber, dass man mir diesmal die Flucht vereitelt hatte. Irgendwie müde.
    Langsam, sehr langsam kehrte Ruhe ein, im Dorf und in den Waggons, nur die Kühe muhten, und hin und wieder wieherte ein Pferd. Ein Kind weinte. Ein vergessener Hahn krähte faul um sein Leben oder um einen Tag anzukündigen, an den nur noch er glaubte. Ein Soldat steckte uns Zigaretten zu, ein anderer eine Flasche Wasser. Der Morgen brach an, die Türen wurden zugezogen und versperrt.
    «Hört das denn nie auf?», fragte ich Vater.
    «Ich fürchte, nicht.»
    * * *
    In meiner Erinnerung an diese Zugfahrt tauchen zuerst die Gerüche auf. Der Geruch nach erhitztem, durch die sengende Hitze aufgeweichtem Teer auf der Bahntrasse. Der Geruch nach Dreck und Schweiß, nach dem Tierkot, der uns vor die Füße plumpste. Der nach Urin in einem alten Eimer, denn der Zug hielt unregelmäßig an, und dann auch nur, damit die Tiere nicht verdursteten und in einem Fluss, der kaum Wasser führte, trinken konnten.
    Dafür hatten wir aus einem Schrank des jungen Paares eine Rampe gebastelt, über die wir die Tiere ins Freie führten. Der einzige Genuss war die frisch gemolkene Milch, die uns die Tiere geduldig und fügsam jeden Morgen vor Sonnenaufgang schenkten. Die Kanne ging stumm von Hand zu Hand.
    Auf seinem Weg durch das Banat hatte der Zug viele Stellen passiert, wo Menschen auf freiem Feld kampierten,kleine Gruppen, die unter ihren Karren etwas Schatten suchten, oder größere Gruppen, die wie ein Volksfest oder ein Wochenmarkt wirkten. Wie wir hatten sie alles bei sich, was sie transportieren konnten und was ihr bisheriges Leben ausgemacht hatte. Doch in unmittelbarer Nähe standen Soldaten und bewachten sie, auch sie von der Hitze geplagt. Das war die einzige Gerechtigkeit, die uns widerfuhr. Sie alle, die dort gestrandet waren, Bewachte und Bewacher, warteten auf ihre Erlösung. Auf einen Zug, der ihnen zugedacht war.
    Auf dem Acker, an Hügelhängen, im tiefen Gras standen Leute neben ihren Schränken, Kredenzen und Truhen, in die sie ihre Unterwäsche, ihre geflickten Hosen und zerfransten Pullover gestopft hatten. Eine Frau hatte ihren Säugling in eine offene Schublade gelegt, und in den Bäumen flatterten Windeln und Wäsche zum Trocknen. Denn sie ließ es sich nicht nehmen, auch dort, unter freiem Himmel, eine ordentliche Hausfrau zu sein. Es war ein ganzer Hang voller Wäsche, als ob dem Hügel Segel gewachsen wären.
    Ein Mann saß in seinem Sessel mitten im Fluss und kühlte seine Füße im Wasser. Auf seinem Schoß lag ein Hut, ein Damenhut, vielleicht die letzte Erinnerung an seine Frau. Wir blickten durch unsere Gucklöcher hindurch und staunten. Inzwischen waren viele Neue hinzugestiegen, und an den Bahnhöfen, an denen wir hielten, herrschte ein Gewimmel von Mensch und Tier. Wenn es den Turm zu Babel wirklich einmal gegeben hat, dann dort, auf den Gleisen irgendeines Provinznestes, wo
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