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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman
Autoren: C.H.Beck
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genügte, um einige Kühe vor sich herzutreiben. Sie würden die Herde zum Schlachthof bringen oder wo auch immer uns der Sergeant haben wollte. Der stieg jetzt auf sein Pferd und gab das Zeichen zum Abmarsch. In zwei Reihen zogen wir am Blinden und an der Lahmen vorbei, die gar keine Notiz von uns nahmen. Sie hatten sich womöglich schon dem Tod überlassen. «Niemand hat sie mitnehmen wollen», flüsterte uns ein Soldat zu. «Man hat sie hier ausgeladen und vergessen.»
    Erst nach Stunden erreichten wir den für uns vorgesehenen Ort, ein schon abgeerntetes Weizenfeld. Über uns krähten unerbittlich die Raben, und zum ersten Mal übertraf mein Durst den Hunger.
    «Halt!», befahl der Sergeant und sprang vom Pferd,während wir erschöpft niedersanken. «Hier ist euer Dorf!», sagte er.
    «Wo, hier?», fragte ich.
    «Junge, siehst du nicht die prächtigen Häuser, die blühenden Obstbäume, die üppigen Gärten? Ich schon.» Dieser Kommentar kam ihm so routiniert über die Lippen, als ob er ihn schon bei anderen Gruppen ausprobiert hätte. Er legte mir den Arm um die Schulter und führte mich näher ans Feld heran. Erst jetzt sah ich, dass dort überall mit weißer Farbe gerade Linien gezogen waren. Ein ganzes Feld voller Rechtecke, es mussten um die Hundert sein, und alle waren sie nummeriert.
    An der Ecke eines jeden Rechtecks war ein Pfahl in den Boden gerammt worden, und darin steckte ein Zettel mit einer Nummer. In jedem Rechteck lagen eine Glasscheibe und eine Holzplatte. «Die Partei hat jeder Familie ein Stück Land zugewiesen, dazu eine Glasscheibe für ein Fenster und eine Holzplatte für die Tür. Ich würde euch raten, bald mit dem Häuserbau zu beginnen. Ich meine es gut mit euch. Hier ist der Herbst sehr stürmisch, und es regnet ohne Ende. Wenn ihr kein Haus baut, sondern euch nur in der Erde eingrabt, werdet ihr darin ersaufen. Aber das ist nicht das Schlimmste. Der Winter ist noch härter, das Einzige, was hier aus Sibirien kommt, sind die Winde. Bald wird es so viel schneien, dass ihr nicht mehr aus den Häusern rauskönnt. So, jetzt werde ich die Namen ausrufen, die auf meiner Liste stehen, und ich erwarte, dass das Familienoberhaupt nach vorn kommt und die Nummer der Parzelle in Empfang nimmt, die ihm zusteht.»
    Es dauerte eine Weile, bis er bei
O
angelangt war, dann ging ich nach vorn, und er sagte mir die Nummer.
    «Gibt es Trinkwasser in der Gegend?», fragte ich.
    «Zwanzig Meter tief oder in den Bottichen, die du dort siehst. Wir haben sie gestern hier für euch aufgestellt. Ich persönlich würde nicht daraus trinken, das Wasser ist voller Würmer. Da rafft euch der Typhus in wenigen Wochen dahin.»
    Als der Sergeant und seine Soldaten weg waren, verteilten wir uns quer über das ganze Feld, jeder in seinem Rechteck. Ich stellte die zwei Schränke parallel zueinander und spannte den Teppich wie ein Dach über ihnen auf. Ich kippte den Tisch um, sodass wir nun von drei Seiten her geschützt waren, sowohl vor dem Wind wie auch vor fremden Blicken. Im kleinen Innenraum, der so entstanden war, stellte ich die zwei Stühle auf und lud Vater ein, sich zu setzen, dann folgte ich ihm. Wir öffneten je eine Schranktür vor uns, sodass nun eine winzige, aber abgeschirmte Fläche entstand, die uns ganz allein gehörte, falls uns überhaupt noch etwas gehören konnte.
    «Nachts legen wir die Matratze auf den Boden, tagsüber reichen die Stühle», erklärte ich Vater.
    «Was sollen wir hier? Es ist das Ende der Welt», sagte er.
    Ich begann zu lachen, wie ich noch nie in meinem Leben gelacht hatte, höchstens bei meiner zweiten Geburt, als Ramina mich Vater gezeigt hatte. Ich lachte auch dann noch, als die Nacht sich über uns senkte und die Menschen sich zum Schlafen bereitmachten. Wir rollten die Matratze aus, zogen uns aus, und immer noch lachte ich. Ich hörte erst auf, als wir nebeneinanderlagen in unserem – ja, das wenigstens war klar: unserem – Rechteck.
    «Ich baue uns ein Haus am Ende der Welt.»

Danksagung
    Der Autor dankt dem Land Schleswig-Holstein und den Städten Erfurt und Baden-Baden sowie dem Literarischen Colloquium Berlin und der Bosch-Stiftung für die Unterstützung dieses Romans.

 
     
     
     
     
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    Copyright © 2011 by Catalin Dorian Florescu
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