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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman
Autoren: C.H.Beck
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letzten Gepäckstücke, die schweren Koffer wie auch die Taschen mit Proviant, verstaut worden waren, versammelten wir uns um den Leutnant, nur Vater blieb etwas abseits stehen. Ich sah ihn an und dachte, was für ein trauriges, sorgenvolles Gesicht er hatte.
    Der Bürgermeister las seine Rede vom Blatt ab, er wünschte uns eine glänzende Zukunft in unserer neualten Heimat und versprach, persönlich darüber zu wachen, dass unser Andenken nicht besudelt würde. Dann übergab er das Wort dem Leutnant, der, ohne Zeit zu verlieren, eine Liste aus der Aktentasche holte und die Namen vorzulesen begann. Ich hatte gehofft, dass ich als Erster drankäme, dass man mich unter dem Buchstaben
A
eingetragen hatte, aber ich war nicht weiter beunruhigt, als das nicht der Fall war. Dann würde ich eben bei den Letzten sein, beim Buchstaben
O
. Jeder, der seinen Namen hörte, trat hervor, schüttelte dem Offizier die Hand und nahm seinen Pass in Empfang.
    Es ging rasch auf meinen Buchstaben zu, die
M
s und
N
s waren bereits dran, und ich machte mich bereit, vorzutreten und wie alle anderen mit würdiger, tiefer Stimme: «Vielen Dank, Genosse Leutnant» zu sagen. Doch der Buchstabe
O
wurde übersprungen, und ein Raunen ging durch die Menge.
    «Was ist los mit euch?», fragte der Offizier verunsichert. «Habe ich einen vergessen?»
    «Mich!», rief ich und hob die Hand.
    «Wie heißt du?»
    «Obertin, Genosse Leutnant. Manchmal schreibt man mich mit
A
und
u
, aber meistens mit
O

    «Obertin», murmelte er, zog die Augenbrauen zusammen und verfolgte mit dem Finger die Namen auf der Liste. Dann aber hellte sich sein Gesicht wieder auf. «Ach, Sie sind der junge Obertin. Sie fahren nirgendshin. Gestern hat Ihr Vater beim Bürgermeister interveniert. Die Umstände Ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion sind unklar. Man hat Sie von der Liste gestrichen.» Sichtlich zufrieden damit, dass er seine Aufgabe erfüllt hatte, verteilte er auch die Pässe für die
T
s und die
W
s, dann schloss er die Tasche und befahl allen einzusteigen. Keiner rührte sich vom Fleck.
    Ich drehte mich um, sah Vater an, der hilflos mit den Achseln zuckte, und auf seinem Gesicht zeichnete sich ein verlegenes Lächeln ab. Ich griff nach einer Holzstange, die man zum Transport von Koffern benutzt hatte, lief zu ihm und schleuderte ihm ein: «Du Drecksack!» entgegen. Der erste Schlag traf ihn am Bauch, der zweite auf den Schultern. Ein drittes Mal hob ich die Stange, er hielt sich die Arme vor das Gesicht, aber ich traf ihn an der Brust.
    Er sank zu Boden und begann zu schluchzen, doch ich schlug immer wieder auf ihn ein, bis die Stange brach, und trat danach mit den Füßen nach ihm, während sich die Leute wie eine undurchdringliche Wand zwischen mich und den Leutnant stellten. In der Stille war nur Vaters Flehen zu hören. Der Leutnant wollte dazwischengehen, aber der Bürgermeister hielt ihn fest.
    Schließlich blieb Vater reglos liegen, ein leises Jammern war das einzige Zeichen, dass er noch lebte. Als ich fertig war, kehrte ich allen den Rücken zu und schritt entschlossen zum Dorf zurück. Als ich über den Hof ging, kamSarelo aus dem Haus und stieg die Treppe hinunter. «Hast du etwas vergessen?» Ich packte die Axt, die in einem Holzscheit steckte, und machte einige Schritte auf ihn zu. Er erschrak und wich so plötzlich zurück, dass er stolperte und zu Boden fiel.
    Ich warf die Axt weg, lief ins Gesindehaus, holte die halb volle Schnapsflasche hervor und leerte sie in einem Zug. Meine Wut nahm zu, wurde so groß, dass ich meinte, sie würde mich in Stücke reißen. Gegen Abend nahm sie ab wie das Sonnenlicht, dann kehrte ich zur Bahnlinie zurück, wo die Züge und die Leute bis auf Vater verschwunden waren, wie wenn es sie nie gegeben hätte. Die Landschaft lag da, gleichgültig gegenüber den Menschen.
    Vater saß immer noch auf dem Acker, unfähig zu gehen. Als er mich von Weitem erblickte, versuchte er davonzukriechen, aber auch dazu reichten seine Kräfte nicht mehr. Als ich bei ihm war, rief er: «Bring mich nicht um!», und hielt sich schützend die Arme vors Gesicht. «Sei still!», befahl ich ihm, hob ihn hoch und trug ihn nach Hause.
    * * *
    Einen weiteren Monat lebten wir wie bisher. Das Dorf hatte sich geleert, die Hälfte der Häuser war unbewohnt, nur in den wenigsten waren schon Rumänen eingezogen. Eine tiefe, alles verschlingende Stille kehrte ins Dorf ein und zehrte an uns wie sonst nur die Hitze oder der überharte Winter. Schlimmer
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