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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Autoren: Bettina Gaus
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Vorwort
    Reisen bildet. Bildet Reisen? Niemals zuvor war es so einfach, fremde Länder kennenzulernen, und es war wohl auch niemals zuvor so wichtig, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen wie heute im Zeitalter der Globalisierung. Schließlich gibt es nahezu keine Entwicklung mehr irgendwo auf dem Planeten, die nicht mittelbar oder unmittelbar auf unsere eigenen Lebensbedingungen einwirkte. Den größten Einfluss üben noch immer, wie schon seit Jahrzehnten, die USA auf den Rest der Welt aus. Über diese Macht meinen fast alle fast alles zu wissen. Wenn schon nicht in faktischer, dann doch in emotionaler Hinsicht.
    Wer heute jünger ist als 75 Jahre, irgendwo auf der Erde, ist von der Kultur der USA bestimmend mitgeprägt worden. Im Guten wie im Schlechten. Das bedeutet auch: Wer eine Ansicht äußert, die sich von der des Gegenübers unterscheidet, zieht damit zugleich dessen Kindheits- und Jugenderinnerungen in Zweifel. Vielleicht lösen Urteile über die Vereinigten Staaten, die mit der eigenen Einschätzung nicht übereinstimmen, auch deshalb und nicht nur wegen tagesaktueller Kontroversen über Irakkrieg oder Klimapolitik so oft Aggressionen aus. Rock ’n’ Roll, die erste Barbie-Puppe, Micky-Maus-Hefte, Bonanza, die Protestlieder von Joan Baez, der Vietnamkrieg, McDonald’s, Jeans, Hollywood. Eine ganze Generation wird das Wort ãPirat“ lebenslang nicht hören können, ohne Johnny Depp vor Augen zu haben. Jede Nixe sieht im Kopf aus wie Arielle, sogar die alte, kleine Meerjungfrau des dänischen Dichters Hans Christian Andersen. Jedes Indianermädchen gleicht Pocahontas.
    Aber wissen wir deshalb heute wirklich mehr über die derzeit einzige Weltmacht als einst die Germanen über das unerreichbar ferne Rom? Oder können wir unsere eigene Kenntnislosigkeit nur besser verdrängen? Erweitern die Ausschnitte der Wirklichkeit, die wir zur Kenntnis nehmen, unseren neugierigen und vorurteilsfreien Blick oder bauen sie gerade erst die Sichtblenden auf, die unsere Beschränkungen definieren? Wo finden inmitten der Fülle unserer Projektionen eigentlich die realen Bewohner der Vereinigten Staaten noch einen Raum? Wie leben sie, was denken sie, was ist ihnen wichtig? Bedeutet es ihnen etwas, Staatsbürger der letzten verbliebenen Weltmacht zu sein? Bedrückt sie die Tatsache, dass sie in vielen anderen Ländern heute unbeliebt sind? Wovor fürchten sie sich? Worauf sind sie stolz? Wie sehen sie den Rest der Welt? Was wissen wir überhaupt über den Alltag eines Fischers in Oregon, einer Bäuerin in Wisconsin, einer Studentin in Arizona? Wie wichtig finden wir es, darüber etwas zu wissen?
    Ich glaube: Wo wir den Alltag der Bevölkerung wenig oder gar nicht kennen, dort fällt es uns auch schwer, politische Entwicklungen und Entscheidungen zu verstehen. Das gilt nicht nur für den Ausbruch von Bürgerkriegen in Afrika oder für den Zulauf zu islamistischen Bewegungen in der arabischen Welt, sondern eben auch für die Vereinigten Staaten. Wobei es übrigens bekanntlich nicht dasselbe ist, etwas zu verstehen wie etwas zu billigen. Aber es lässt sich nicht begreifen, dass ein 71-jähriger Mann zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wird, wenn man nichts über das Verhältnis der Generationen weiß. Die Reaktionen auf die Terroranschläge des 11. September sind nicht nachvollziehbar, hat man nicht die Trauer über die Opfer gespürt. Fernsehbilder genügen nicht. Stichwort Fernsehbilder: Auch um überhaupt zu verstehen, wie es zu den schockierenden Aufnahmen schwarzer Hurrikanopfer in New Orleans kommen konnte, ist es nützlich zu beobachten, welchen Umgang verschiedene Bevölkerungsgruppen jenseits von Katastrophen miteinander pflegen.
    Vor fast einem halben Jahrhundert stellte der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck – ein weit gereister Mann – erschrocken fest, dass er seine eigene Heimat seit 25 Jahren nicht mehr »gefühlt« habe. Deshalb wollte er »dieses monströse Land« wiederentdecken, denn er glaubte, über etwas zu schreiben, dass er nicht mehr kannte. »Und mir scheint, bei einem, der sich Schriftsteller nennt, ist das kriminell.«
    Steinbeck zog Konsequenzen. 1960, im Jahr des Präsidentschaftswahlkampfs zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon, nahm er sich drei Monate Zeit, um die USA zu umrunden. Von New York aus fuhr er über Neuengland, das Gebiet der Großen Seen und den Mittleren Westen bis zur Westküste. In Kalifornien begann der lange Rückweg: durch Arizona, New Mexico und
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