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Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet
Autoren: Michael Connelly
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Schluss. Man ließ sich ins Archiv versetzen, man gab seine Dienstmarke ab, man tat irgendetwas. Weil man den Anblick eines weiteren Toten einfach nicht ertragen hätte. Doch wenn man trotzdem blieb, wenn man sein Limit überschritt, nun ja, dann gab es Probleme, die damit enden konnten, dass man sich eine Kugel in den Kopf schoss. Genau das hatte Sean gesagt.
    Mir wurde bewusst, dass mich der andere Detective, Ray St. Louis, angesprochen hatte.
    Er war viel größer als Wexler. Selbst in dem schwachen Licht im Wageninnern konnte ich die Unebenheit seines pockennarbigen Gesichts erkennen. Ich kannte ihn nicht, aber ich hatte gehört, wie andere Cops über ihn redeten, und ich wusste, dass sie ihn Big Dog nannten. Als ich ihn und Wexler zusammen sah, als sie im Foyer der Rocky auf mich warteten, hielt ich sie für das perfekte Mutt-und-Jeff-Paar. Sie sahen aus, als wären sie direkt aus einem Spätfilm gestiegen. Lange, dunkle Mäntel. Hüte. Die ganze Szene hätte in Schwarzweiß sein sollen.
    »Haben Sie gehört, Jack? Wir bringen es ihr bei. Das ist unser Job, aber es wäre uns sehr lieb, wenn Sie dabei sein könnten, vielleicht sogar bei ihr bleiben würden, wenn es hart auf hart geht. Sie wissen schon - wenn sie jemanden um sich braucht. Okay?«
    »Okay.«
    »Gut, Jack.«
    Wir waren unterwegs zu Seans Haus. Nicht zu der Wohnung, die er sich mit vier anderen Cops in Denver teilte, damit er den Vorschriften entsprechend ein Einwohner von Denver war. Sondern zu seinem Haus in Boulder, wo seine Frau Riley uns die Tür öffnen würde. Ich wusste, dass niemand ihr etwas beizubringen brauchte. Sie würde wissen, was passiert war, sobald sie uns drei ohne Sean dastehen sah. Jede Frau eines Cops würde sofort Bescheid wissen. Diese Frauen verbringen ihr Leben damit, genau den Tag zu fürchten und sich auf ihn einzustellen. Jedes Mal, wenn jemand an die Tür klopft, rechnen sie damit, dass es Todesboten sein könnten. Diesmal würde es der Fall sein.
    »Sie wird es sowieso wissen«, erklärte ich ihnen.
    »Vermutlich«, sagte Wexler. »Sie wissen es immer.«
    Mir wurde klar, dass sie darauf sogar bauten. Das würde ihren Job leichter machen.
    Ich ließ mein Kinn auf die Brust sinken, schob die Finger unter die Brille und massierte meine Nasenwurzel. Mir war bewusst, dass ich zu einer Figur aus einer meiner eigenen Storys geworden war - dass ich die Zeichen des Kummers und Verlustes zur Schau stellte, die ich sonst so mühsam formulierte, damit eine fünfundsiebzig Zentimeter lange Zeitungsstory besonders ergreifend wurde.
    Ein Schamgefühl überfiel mich, als ich an all meine Anrufe bei einer Witwe oder den Eltern eines toten Kindes dachte. Oder bei dem Bruder eines Selbstmörders. Ja, sogar solche Leute hatte ich angerufen. Ich glaube nicht, dass es irgendeine Art von Tod gibt, über die ich nicht geschrieben habe, bei der ich nicht zum Eindringling in anderer Leute Schmerz geworden war.
    Wie fühlen Sie sich? Worte, die einem Reporter geläufig sind. Immer die erste Frage. Vielleicht nicht so direkt gestellt, sondern sorgfältig hinter Worten getarnt, die Mitgefühl und Verständnis ausdrücken sollten - Empfindungen, die mir in Wirklichkeit abgingen. Ich habe sogar ein Andenken an diese Gefühllosigkeit. Eine schmale weiße Narbe auf meiner linken Wange, direkt oberhalb meines Bartes. Sie stammt von dem Diamanten am Verlobungsring einer Frau, deren Verlobter gerade in einer Lawine in der Nähe von Breckenridge ums Leben gekommen war. Ich stellte ihr die übliche Frage, und sie reagierte mit einer Rückhand quer über mein Gesicht. Damals war ich noch neu in diesem Job und glaubte, mir wäre Unrecht geschehen. Heute trage ich die Narbe wie eine Medaille.
    »Halten Sie bitte an«, sagte ich. »Ich muss mich übergeben.«
    Wexler steuerte den Wagen sofort auf die Standspur des Freeways. Wir schlitterten ein wenig auf dem schwarzen Eis, doch dann gewann Wexler die Kontrolle zurück. Noch bevor der Wagen völlig zum Stillstand gekommen war, versuchte ich verzweifelt, die Tür zu öffnen, aber der Griff funktionierte nicht. Es war ein Polizeifahrzeug, begriff ich dann, und die meisten Leute, die auf dem Rücksitz mitfuhren, waren Verdächtige oder Gefangene.
    »Die Tür«, brachte ich mühsam heraus.
    Der Wagen kam schließlich mit einem Ruck zum Stehen, und Wexler löste die Sicherheitsverriegelung. Ich öffnete die Tür, beugte mich hinaus und erbrach mich in den schmutzigen Schneematsch. Eine halbe Minute lang rührte ich
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